Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
mag sein, dass auf der Berggasse etwas geschieht, was Freud nicht gefällt, es kann auch sein, dass sich in Freud selbst etwas Beunruhigendes zuträgt. Erst rund acht Jahre später hatte Freud Grund, mit erheblicher Nervosität vom selben Fenster aus auf die Straße zu schauen. Denn acht Jahre später, 1938, ereignete sich die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich, von der Freud allerdings lange vorher wusste, dass sie Unheil über die Menschen bringen würde. Zwei Jahre zuvor, 1936, hatte er beispielsweise an Arnold Zweig geschrieben: »Österreichs Weg zum National-Sozialismus scheint unaufhaltbar. Alle Schicksale haben sich mit dem Gesindel verschworen. Mit immer weniger Bedauern warte ich darauf, dass für mich der Vorhang fällt.«
Wir können behaupten, dass es zwischen dem Vorhang, den Freud hier für sich fallen sieht, und der Gardine, hinter der er acht Jahre zuvor auf dem soeben beschriebenen Foto zu sehen ist, eine Verbindung gibt, die das Foto enthüllt. Schon bald nach der Machtergreifung haben die Nationalsozialisten nicht nur den Eingang von Freuds Wohnhaus mit einer Hakenkreuz-Draperie versehen. Auch die Wohnung selber wurde mehrmals von SA-Banden heimgesucht, die hauptsächlich auf Beute aus waren. Die Gestapo erschien öfter und untersuchte die Praxis, wobei Freuds Tochter Anna einmal vorübergehend festgenommen wurde. Wenn wir uns jetzt wieder an das Foto erinnern, dann erscheint der Argwohn, mit dem Freud auf die Berggasse herabschaut, sowohl evident als auch begründet. Es gibt zwei Möglichkeiten; entweder Freud wusste oder ahnte schon lange vor den schrecklichen Ereignissen, dass sie eines Tages geschehen würden und dass es sich dabei in einem ganz ausdrücklichen und fürchterlichen Sinn um Ereignisse der Straße handelte, derer ein Mensch entweder überhaupt niemals ansichtig werden sollte oder, wenn es denn sein muss, gut verborgen hinter einer Fenstergardine stehend. Und wir, die Betrachter des Fotos, können Freuds Ahnung teilen, weil das Foto sie an uns weitergibt. Die zweite Möglichkeit ist komplizierter und spekulativer: Es erhebt sich die Frage, ob nur das Foto die Ahnung konstruiert und ob wir, seine Betrachter, dem Foto die Ahnung ablesen können, weil Freud selbst sie nicht hatte. Daraus ergibt sich eine weitere Frage, die wir vielleicht nur stellen, aber nicht wirklich beantworten können: Kann ein Foto etwas wissen ?
Ein anderes Beispiel ist noch ein wenig unheimlicher. Es zeigt den Schriftsteller Joseph Roth während einer Reise im Jahre 1926. Roth war fast sein ganzes Leben lang auch als Journalist tätig gewesen, insbesondere als Reisejournalist. Das Foto zeigt ihn während einer Umsteige-Pause auf einem unbekannten Bahnhof in Russland. Roth trägt einen eleganten Anzug, ein weißes Hemd mit Krawatte und einen dunklen Hut. Er sitzt auf seinem Koffer, schaut vor sich auf den Bahnsteig und raucht dabei eine Zigarette. Roth ist ein für damalige Verhältnisse gutgekleideter Herr, zu dem nur eines nicht recht passt, seine offenkundige Trauer nämlich. Roth ist kein freudiger Reisender. Sein Gesicht ist halb verdeckt vom Schatten der breiten Hutkrempe. Er wirkt müde und erschöpft. Allein die untere Gesichtshälfte ist unserem Blick preisgegeben, und sie wirkt verschlossen, gehetzt, besorgt, bitter. Genau hinter Roth ist ein Waggon der Eisenbahn abgestellt; sonderbarerweise kein Personenwagen, sondern ein verschlossener Güterwaggon. Roth ist 1926 mit Sicherheit in keinem Güterwaggon gereist; warum ist ein solcher hinter ihm zu sehen? Auf dem Güterwaggon prangt ein kleines weißes Signet, ein sechseckiger Stern, eingefasst in einen weißen Kreis. Es ist nicht der Judenstern, das Hexagramm. Es handelt sich um ein Waggon-Kennzeichen der Eisenbahn, das nur so aussieht wie ein Judenstern. Wir schreiben das Jahr 1926, von Judentransporten in Konzentrationslager ist der Weltöffentlichkeit noch nichts bekannt. Aber der Stern sieht dem Judenstern zum Verwechseln ähnlich. Es ist nicht die geringste Phantasie dafür nötig, sondern nur ein gewöhnliches Assoziationsvermögen, um auf diesem Foto ein zeichenhaftes Vorbeben dessen zu sehen, was fünfzehn Jahre später in Europa geschah: der in Güter- und Viehwaggons durchgeführte Transport von Menschen in Konzentrationslager. Ist also Joseph Roths Trauer ein Zeichen für die spätere kollektive Melancholie gleich zweier Völker, das der Opfer und das der Täter? Und, zweitens: Konstruiert das Foto diese
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