Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Stefan George aus dem Jahre 1906 anschauen; oder eines von Georg Trakl aus dem Jahre 1909; oder eines von Adalbert Stifter aus der Zeit, als er endlich Schulrat geworden war, also um 1850 herum und für ihn viel zu spät – dann haben wir sogleich das Gefühl, dass wir diese Bilder nicht ohne weiteres »verstehen« können. Sie haben sich in Chiffren verwandelt. Die inzwischen vergangene Zeit hat die Abgebildeten verrätselt. Der hohe, gestärkte Kragen, der bis zu den Backenknochen hochreicht, macht aus Stefan George eine halslose und dadurch auch leblos scheinende Statue, an der unser eigenes Zeitgefühl abprallt. Auch für Georg Trakl, einen jungen Mann mit straff gekämmtem Haar, niedriger Stirn und stierem Blick, gibt es keine heutige Parallelerscheinung, die uns bei der Bildauslegung behilflich sein könnte. Erst recht nicht für das Abbild von Adalbert Stifter, einen schwergewichtigen Mann, der genauso viel Enge wie Intellektualität ausstrahlt, genauso viel Schwermut wie versteckte Gemütlichkeit. Die Zeit hat die Fotos genauso undurchsichtig gemacht wie die ihnen zugrunde liegenden Originale. Der Rückschluss von den toten Einzelheiten auf ihre Träger ist unmöglich geworden. Die Zeichen begründen eine neue, eigene Art von Wirklichkeit. Manfred Schmalriede hat deswegen die Funktionsweise von Fotografie analog zur Sprache aufgefasst. In Anlehnung an Charles Peirce skizzierte er ein zeichentheoretisches Modell, dessen Quintessenz die These ist, das Foto sei Prädikat einer Aussage, als deren Subjekt die (interpretierte) Wirklichkeit fungiert.
Für Autoren, die mit der laufenden Veröffentlichung von Porträts eine Art Werbestrategie verfolgen, weil sie mit ihren Abbildern ähnlich zu wirken versuchen wie mit ihren Texten, ergeben sich daraus oft nicht mehr beherrschbare Nebenfolgen. Das Abbild kann, sozusagen hinter dem Rücken des Autors, in eine Rezeptionskonkurrenz zum Werk treten. Der Autor läuft Gefahr, dass sich sein allzu attraktives Foto vor das Werk schiebt. Bedrohlicher formuliert: In der Medienwelt überlebt das Abbild mit größerer Gewissheit als das Werk; durch seine ständige Wiederkehr wird es zu dessen Kürzel und kann – durch seine unübersichtliche Entfaltung in der Zeit – die Lektüre des Werks sogar ausschließen. Ein grobes, aber eindeutiges Beispiel: Es gibt Leser, die Hemingway nicht lesen, weil sie sich von dessen Abbildungen als Großwildjäger, Gunman und Macho nicht animiert fühlen. Für Karl May, den Ernst Bloch einen »armen, verwirrten Proleten« nannte, mussten veröffentlichte Porträts eine äußerst wacklige Identität abstützen helfen. Bis an sein Lebensende kränkte es ihn, dass er in jüngeren Jahren in fremde Kassen gegriffen hatte, wofür er mit Zuchthaus bestraft worden war. Diese Spuren galt es zu verwischen; die wachsende Leserschar sollte glauben, er, Karl May, sei identisch mit dem makellosen Old Shatterhand und dem ebenso fehlerfreien Kara Ben Nemsi. Er ließ sich Kostüme seiner Helden schneidern, in denen er sich schließlich auch porträtieren ließ – und erreichte damit nur eine Verdoppelung falscher Identität: Seine Porträts waren so fiktional wie seine Bücher geworden. In einer Anzeige des »Börsenblatts« vom 4. Mai 1897 lesen wir:
»Hervorragende Neuheit! Photografien von Dr. Karl May, dem berühmten und wohl beliebtesten Reiseschriftsteller der Gegenwart, mit seiner eigenhändigen Unterschrift sind unter Vorbehalt aller Urheberrechte (…) in nachstehenden Ausgaben erschienen:
Nr. 1. Dr. Karl May als Old Shatterhand, Brustbild.
Nr. 2. Dr. Karl May als Stehfigur mit ›Silberbüchse‹.
Nr. 3. Dr. Karl May als Stehfigur mit ›Silberbüchse‹
und Fell des Präriewolfs.
Nr. 4. Dr. Karl May als Kara Ben Nemsi. Brustbild.
Nr. 5. Dr. Karl May als Stehfigur.
Nr. 6. Dr. Karl May als Stehfigur mit Revolver
in der Hand.
Der bisherige überraschende Absatz beweist die allseitig freudige Aufnahme dieser Bilder bei den so zahlreichen Verehrern dieses Meisters der Schilderung. Keine Sortimentsfirma versäume wenigstens 1 Bild zur Probe nach Wahl mit 50 Prozent Rabatt zu bestellen.«
Auf der Gegenseite gibt es ebenso viele Beispiele für porträtlos gebliebene Autoren, deren Werk zu ihren Lebzeiten nur wenigen Liebhabern bekannt war, etwa Robert Walser oder Robert Musil. Die Werke dieser Autoren hatten zu ihrer Zeit fast den Charakter von Geheimschriften. Ebenso verborgen blieben
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