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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Frage – oder gibt das Foto wieder nur uns, den Betrachtern, ein paar Hinweise, damit wir die vom Foto gestellte Frage aussprechen können?
    Mit den beiden Auslegungen befinden wir uns in Übereinstimmung sowohl mit der klassischen Analytik des Schönen als auch mit der modernen Foto-Ästhetik. Das einzig verlässliche Instrument, das uns für solche Interpretationen zur Verfügung steht und das gar kein Instrument ist, sondern eine Naturanlage, ist die schon erwähnte, von Kant so genannte Einbildungskraft. Sie ist – mit den Worten von Kant – ein »produktives Erkenntnisvermögen«, das, noch einmal Kant, »etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendes« fixieren will. Natürlich verwendet Kant nicht das moderne Wort »fixieren«; er gebraucht – im § 49 von Teil I der »Kritik der Urteilskraft« – das genauere Verb »streben«. Das Wort »streben« zeigt zutreffend an, dass unsere Einbildungskraft ein Drang ist, der – deswegen ist er ein solcher – an kein Ende kommen kann. Das wiederum bedeutet zweierlei:
    1.  Wir haben keine Wahl; wir müssen erkennen, weil wir zu Ergebnissen kommen wollen.
    2.  Die nie erlahmende Bewegung des Drangs nötigt uns, das je Erkannte als etwas Vorläufiges anzusehen, das früher oder später, aber absehbar durch etwas neu Erkanntes ersetzt werden wird.
    Auf die Auslegung von Fotos angewandt, können wir den Kantischen Satz so anwenden: Die Fotos schweigen, und zwar immer; sobald sie aber von Menschen angeschaut werden, fangen sie an zu sprechen; oder: sie lösen einen historisch sedimentierten Text in uns aus. Am Horizont all dessen, was sich ereignet und abgebildet und ausgelegt werden kann, fallen Betrachter und das zu Betrachtende in eins zusammen.
    Seit Kant hat sich die Ästhetik in mannigfacher Weise ausdifferenziert. Wir machen deswegen einen Sprung über mehr als zweihundert Jahre hinweg und landen in der Moderne, in unserem Fall: in der Foto-Ästhetik von Gisèle Freund. Von ihr gibt es einen Satz, der die zentralen Pole des fotografischen Geschehens zusammenfasst: »Der Fotograf hat die schwierige Aufgabe, uns zu enthüllen, was wir geheimhalten wollen.«
    In dieser Bemerkung leuchten die seither eingetretenen Differenzierungen blitzlichtartig auf. Die vielleicht wichtigste Neuerung ist: Als Wahrheit gilt nicht mehr nur etwas, was sich nach allgemeiner Übereinkunft abgelagert hat und was deswegen auch kanonisierbar war. Wahrheit ist stattdessen zu einem Relationsbegriff geworden, dessen Perspektive und Ertrag sich verschieben mit der Position dessen, der nach je individuellem Interesse nach ihr sucht. Gisèle Freund nennt in ihrem Satz die beiden wichtigsten Zugänglichkeitsbedingungen für Wahrheit im modernen Sinn: »Geheimhaltung« und »Enthüllung«. Genau dazwischen baut Gisèle Freund die Funktion – sie nennt sie eine »Aufgabe« – des Fotografen ein: Er ist ein Vermittler. Er steht im Dienst von Wahrheitsfindung, weil er zwischen den Interessen der Geheimhaltung und der Enthüllung agiert. Nach Auffassung von Gisèle Freund kann die Fotografie das Dunkel zwischen uns und dem, was wir sehen oder eben nicht sehen, aufhellen. Damit schreibt Freund der Fotografie eine Qualifikation zu, die unsere Fähigkeiten, die wir nur mit bloßem Auge sehen können, übersteigt. Die Fotografie hat die Form eines Erkenntnismittels angenommen. Die Frage, ob ein Foto etwas wissen kann, ist damit mit Ja beantwortet. Der Zugewinn liegt auf der Hand: Mit bloßem Auge können wir immer nur fliehende Ereignisse in der ebenso fliehenden Zeit wahrnehmen. Das Foto schiebt, indem es fliehende Ereignisse bildhaft einfriert, das Moment der festgehaltenen Zeit zwischen uns und das Bild. Zwischen dem immer gerade verschwindenden Anblick und dem bleibenden Bild verharrt ein Jetztpunkt der Zeit und lässt sich beliebig lang anschauen – gerade so, als hätte Zeit gegenständlichen materiellen Charakter. Freilich erkennen wir auch hier wieder eine Doppelstruktur: Der Fotograf verschleiert, dass er uns vorübergehend die Kompetenz eigenen Sehens bestreitet – und entschädigt uns zugleich für diese Beraubung, indem er unser eigenes Sehen mit seinen Bildern bereichert. Ein Foto leistet damit etwas, was unser natürliches, immerzu bewegliches Sehen nicht schaffen kann: Es zieht eine Zeitsumme, genauer: eine Zeitzwischensumme. Erst dieser Zeitsaldo, den ein Foto vor uns aufsummiert, verleiht unserem unruhigen Auge die Fähigkeit, selber statisch zu werden, damit es zu

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