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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Betrachtungsergebnissen überhaupt kommen kann.
    Wir alle haben schon einmal diesen Vorgang erlebt: Wir sehen zum ersten Mal ein Foto, das jemand von uns gemacht hat, und wir wissen sofort, dass wir mit diesem Foto nicht einverstanden sind, weil es uns, wie wir glauben, »unvorteilhaft« zeigt. Wir gefallen uns nicht, das Abbild stützt nicht unsere Selbstliebe. Deswegen spüren wir sogleich das Verlangen, das Foto aus dem Verkehr zu ziehen, und das heißt: seine Betrachtung durch dritte zu verhindern. Zugleich haben wir die zutreffende Ahnung, dass uns dies nicht gelingen wird. Unser Abbild, ist es erst einmal vorhanden, ist auf jeden Fall trickreicher und tückischer als wir. Wir spüren, das Foto wird – sozusagen hinter unserem Rücken – immer wieder angeschaut werden. Womöglich liegt in der Heimlichkeit, in der dies geschieht, auch eine versteckte Stellungnahme gegen uns selbst. Wir selber sind überzeugt, dass wir »in Wirklichkeit« viel besser aussehen als gerade auf diesem verunglückten Foto. Und alle, die uns nicht kennen, sollen gar nicht erst auf die Idee kommen können, dass wir auch ungünstig aussehen können. Dabei bemerken wir nicht, dass uns das Erschrecken vor dem eigenen Bild vor einer Enthüllung schützt. Der Argwohn vor unserem Abbild ist die erste Erfahrung unserer zukünftigen Abwesenheit. Denn jedes Foto, das von uns gemacht wird, könnte uns daran erinnern, dass es uns als Lebende eines Tages nicht mehr geben wird und dass alles, was von unserer Anschaulichkeit übrigbleibt, eben jene Abbilder sind, die wir so inflationär und intentionslos von uns machen lassen. Wir sagen mit Absicht: Fotos könnten uns an die eigene Sterblichkeit erinnern. Faktisch leisten Fotos diese »Protention« (Husserl) nicht, die Vorauserinnerung, die etwas Vergangenes gleichsam mit dem »Zeitcharakter der Zukunft« (Schütz) ausstattet. Sonst hätten das Fotografieren und mehr noch das Fotografiertwerden niemals diese Beliebtheit erreichen können. Indem wir Fotos ausschließlich auf unsere Gegenwärtigkeit beziehen, schließen wir ihre Todesprophetie aus. Damit tun wir das, was wir mit dem Tod immer tun, wir leugnen ihn, und zwar genau in dem markanten Augenblick, in dem er sich selber – und vor unseren eigenen Augen – dokumentiert. Solange wir am Leben sind, können Betrachter das Abbild mit dem Original vergleichen. Nach unserem Tod entfällt diese Möglichkeit: für immer. Das Paradox der Menschenabbildung lautet: Obwohl das Foto unseren Tod fixiert, erlaubt es uns zugleich den Gedanken an seine Ausblendung. Das Problem dabei ist: Wir können unseren Tod nicht sehen. Deswegen geht der Gedanke von Roland Barthes ins Leere, dass wir auf Fotos unseren Tod suchten. Wir können ihn nicht suchen, weil wir wissen , dass wir ihn nicht anschauen können. Zwischen der Gegenwart des Lebens und der Zukünftigkeit des Todes liegt die Strecke der Antizipation, korrekt: vor der Erfahrung liegt die Vorstellung, das Apriori der Einbildungskraft, das uns bestenfalls an die Möglichkeit des Sterbenmüssens erinnert.
    Aber nicht einmal von dieser Möglichkeit wollen wir Gebrauch machen. Ihr Schrecken ist zu mächtig. Immerhin sehen wir jetzt, dass die Beliebtheit des Fotografierens in umgekehrtem Verhältnis zu seiner Unheimlichkeit steht. Der Blick unserer Eitelkeit ist der Blick des stets maskierten Todes. Der nicht zu sich selbst kommende Gedanke an unser Verschwinden führt sich auf wie ein Stuntman unseres unversehrbaren Ichs: Wir wollen auch dann noch »attraktiv« sein, wenn es uns nicht mehr gibt. Volker Hage hat berichtet, dass Max Frisch »bis zuletzt, noch wenige Wochen vor seinem Tod« Einfluss nahm auf die Auswahl der Fotos, die von ihm erscheinen werden (ZEIT vom 12. April 1991). Fotos organisieren die Details unseres Ausdrucks und präsentieren sie zugleich als geordnetes Ensemble. Aus diesem Grund sehen so viele Menschen auf Fotos persönlicher aus als »in Wirklichkeit«. Unser Foto ist immer seriöser als wir selbst, weil es uns einen Rahmen und eine Situierung gibt, die wir sonst, in der rahmenlosen Wirklichkeit, nicht haben können. Deswegen steigert jedes Foto mit seinem Alter auch seinen Zeichengehalt. Je weiter der Zeitpunkt der Herstellung eines Fotos von der Gegenwart des Abgebildeten entfernt ist, desto auslegungsbedürftiger werden seine Details. Einst unmittelbar zugängliche Dokumente verwandeln sich in Ikonografien, die den Text unserer Auslegung benötigen. Wenn wir heute ein Foto von

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