Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Altenberg hatte große Aufmerksamkeit für das »belastete Dasein« derer, die am »Ichismus« ihrer Nebenmenschen scheiterten oder gar bei der »Lebensprüfung« durchfielen. Oder, wie es in der Skizze »Parfüm« heißt: »Später überfiel uns das Schicksal wie eine unvorhergesehene Hunnenhorde und bereitete uns allenthalben schwere Niederlagen.«
Es ist erlaubt, diesen Satz auch auf Altenbergs Leben zu beziehen. Er ist, zumindest im deutschsprachigen Literaturraum, eines der ersten Opfer der Moderne. Unklar ist, ob er sein Scheitern als freier Schriftsteller als Auswirkung der gesellschaftlichen Umbrüche erlebte oder als Spätfolge biografisch-familiärer Verstrickung. Rätselhaft bleibt, woher er die Kraft nahm, als zunehmend zerstörter Mensch das unzerstörte Dasein der anderen zu beschreiben. Immer wieder betrachtet er den unbeschädigten Alltag entzückender Kindfrauen und preist ihn um seiner Ahnungslosigkeit willen. Denn Ahnungslosigkeit war für Altenberg ein Indiz für Unschuld. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten die Menschen (besonders die Frauen) vor der Destruktion des Wirklichen beschützt werden müssen. Er meinte nicht die notorisch fortschreitende Desillusionierung, die jedem Lebenden ins Haus steht. Sondern er meinte den »Traum von etwas, was nicht da ist und was nicht kommt«.
Wir sehen an diesem Satz (er ist der Kurzerzählung »Die Geschwister« entnommen), dass der durch und durch mit dem Schwarzbrot des Realismus vertraute Altenberg dort ein Metaphysiker war, wo ihm die Agonie des Realen keinen anderen Ausweg mehr ließ. Es kommt ihm darauf an, dass wir die irdischen Güter nicht für das Ein-und-Alles des Lebens halten müssen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von seiner Berührungsfähigkeit mit dem »anderen Zustand«, mit der Utopie des Noch-nicht. Genau damit hapert es bei den meisten Menschen, leider auch bei den Frauen, meint Altenberg, die viel zu sehr ihr Versorgungsinteresse im Auge haben. Die Hauptverantwortlichen für das Unglück der Menschen sind in den Augen Altenbergs jedoch die Männer. Er nennt sich ohne Ironie einen »Feind des Mannes«. Denn der gewöhnliche Mann ist ein »perfider Sich-Abfinder mit dem Leben«, ein »findiger unerbittlicher Geschäftsmann«, ein »Hausierer des Glücks«. Die Männer sind »heimtückische, feige Marodeure«, die »ihre innere rohe Leere mit einem liebevollen dummen Frauenherzen auszufüllen« suchen. Denn der »schamlosen Sexualität des Mannes« ist nichts »heilig und künstlerisch«, sie ist nur »eine Fress-Gelegenheit«. Es ist naheliegend, dass Altenberg – bei der Wucht dieser Angriffe – zuweilen die Feder ausrutscht. Er behauptet von sich: »Ich habe nie irgend etwas anderes im Leben für wertvoll gehalten als die Frauenschönheit, die Damen-Grazie, dieses Süße, Kindliche!« Und: »Mein Leben war der unerhörten Begeisterung für Gottes Kunstwerk ›Frauenleib‹ gewidmet!«
Jetzt sind wir Altenbergs Idealisierungskitsch schon ziemlich nahe, der sich dann auch prompt einstellt: »Jeder edle Frauenleib ist die körperlich gewordene, concentrirter Organismus gewordene Sehnsucht, durch seelisch-geistige Potenzen erlöst, zum Leben gebracht zu werden. Er bleibt todt durch sexuelle Potenzen, er erwacht zu seinem eigenen wesentlichen Leben erst durch seelisch-geistige Entjungferung.« Was Altenberg damit wohl gemeint hat? Zuweilen wünscht man sich schon, er hätte ein zweites und drittes Mal über seine schnell hingeschriebenen Thesen nachgedacht. Aber Altenberg war ein Schwärmer, kein Denker. Er war ein Spezialist der sicheren Empfindung und ein Routinier des schnell wirkenden Textes, und als solcher gefiel er seinem Publikum. Es ist reizvoll und eigenartig, wie sich in Altenbergs Prosa Reste des abdankenden 19. Jahrhunderts und Momente einer neuen Zeit mischen. Man kann sagen: Es herrscht die Konfusion kurz vor dem Ausbruch der Moderne. Einerseits wünscht sich Altenberg – ausgerechnet er, ein Feind des Mannes! – noch immer eine konfliktbewältigende Frau, »die meine Höhen mit ›Enthusiasmus‹ und meine Abgründe ›ohne Schaudern‹ miterlebte«. Andererseits warnt er die »Mädchen aus dem Volke«, dass der »Zins vor der Türe ist und dass man in jedem Augenblicke schwanger werden und verlassen werden könnte«. Stets wehrt er sich dagegen, dass sich die Menschen untereinander wie als schon vor-erkannte, berechenbare Einheiten behandeln, als quasi immer schon durchschaute Automaten, von
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