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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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einerseits an der Moderne gescheitert und andererseits auf den Trümmern seines Scheiterns als beglückter Phönix wiederauferstanden. Das ist ein Kunststück, mit dem er ziemlich allein dasteht. Altenbergs »Anhänger« akzeptieren, dass er wegen seiner nicht immer durchsichtigen Kontakte zu – sagen wir die Dinge, wie sie sind – minderjährigen Mädchen zuweilen Probleme hatte beziehungsweise sich schräg anschauen lassen musste. Altenberg nahm diese Zwielichtigkeit hin wie die Zwielichtigkeit gewisser Teile seines Werks.
    Welcher Autor außer Peter Altenberg hätte zum Beispiel diesen Satz schreiben können: »Es sind manche hübsche Sächelchen in meinen Büchern, nur muss man sie aus dem Miste herauszuklauben verstehen.« Man weiß nicht recht, ob derartige Bekenntnisse ausreichen, aus Altenberg einen souveränen Geist zu konstruieren. Zu seiner Unabhängigkeit gehört, dass er sich für eine solide Analyse seines Unglücks nicht interessierte. Sein Instinkt sagte ihm, dass es unmöglich ist, aus der Vielfalt der biografischen Versagungen eine Rangfolge der verursachenden Kräfte zu rekonstruieren. Schon in seinem ersten Buch »Wie ich es sehe« notierte er die Sätze: »Wir trauern um unser eigenes Ich, das im Drang des Lebens verkrüppelt. Diese Trauer heißt ›Schamgefühl‹.«
    Die beiden Sätze haben offenbarende Kraft, sie sind präzise und gleichzeitig verschleiernd. Bewundernswert ist das Eingeständnis, im Drang des Lebens verkrüppelt worden zu sein. Danach kommt die Scham; sie bedeutet: ein Mensch empfindet wehrlos ein Niederlagengefühl, das sich endlos gegen die eigene Innenwelt richtet – und ist eben deswegen nicht weiter analysierbar. Man kann auch sagen: im Zentrum der Scham steckt eine bestrafende Einschüchterung, ein Vorgriff des Todes auf das Leben. Altenberg war schon in seiner Kindheit um sein Überleben besorgt; diese vorzeitige Anstrengung könnte der Kern seiner Melancholie gewesen sein. Er muss frühzeitig geahnt haben, wie beschämend sein Altern ausfallen würde. Sein Lebensabend war, rein äußerlich (um vom Innerlichen zu schweigen), eine in die Länge gezogene Schmach. Seit 1905, als die väterliche Firma Bankrott anmeldete, lebte er von mäzenatischer Unterstützung, das heißt von milden Gaben, die er mit scharfen Bettelbriefen einforderte. Ist es ein Wunder, dass seine durch Medikamentenmissbrauch und Alkohol geschwächten Nerven diesen Kampf nicht aushielten? Altenberg wurde in eine sogenannte »Wasserheilanstalt« eingeliefert, wo er von der »schmerzhaften Überreizung seiner Nerven Erholung suchte« (so seine Freundin Helga Malmberg). Von der Wasserheilanstalt wechselte er in die Heilanstalt Inzersdorf bei Wien, von dort weiter in die Nervenheilanstalt Steinhof in Wien. Erstaunlich bleibt, dass in Altenbergs Spätwerk jegliche Katastrophenrhetorik ausbleibt. Es gibt keine Ressentiments gegen die nachgewachsene Jugend, gegen die Frauen, gegen die Reichen, gegen die Politik, gegen die Technik oder gegen den Fortgang der Zeit. Einmal schrieb er: »Nie wurde Etwas aus meinen Träumen.« Um dieser Träume willen wird er bis heute geschätzt.

Die Flucht in die Ohnmacht
Dankrede zum Kleist-Preis
     
    Der 23-jährige Kleist schrieb an seine damals zwanzig Jahre alte Verlobte Wilhelmine von Zenge: »Mädchen! Wie glücklich wirst Du sein! Und ich! Wie wirst Du an meinem Halse weinen, heiße innige Freudenthränen! Wie wirst Du mir mit Deiner ganzen Seele danken! – Doch still! Noch ist nichts ganz entschieden, aber – der Würfel liegt, und, wenn ich recht sehe, wenn nicht Alles mich täuscht, so stehen die Augen gut. Sei ruhig. In wenigen Tagen kommt ein froher Brief an Dich, ein Brief, Wilhelmine, der – – Doch ich soll ja nicht reden, und so will ich denn noch schweigen auf diese wenigen Tage. Nur diese gewisse Nachricht will ich Dir mitteilen: ich gehe von hier nicht weiter nach Straßburg, sondern bleibe in Wirzburg. Eher als Du glaubst, bin ich wieder bei Dir in Frankfurt. Küsse mich, Mädchen, denn ich verdiene es (…)«
    Hochtönend wohlmeinende Briefe dieser Art hat Kleist sehr oft geschrieben. Misstrauen in ihren Wahrheitsgehalt war damals noch nicht sehr verbreitet. Ein Mann, der solche Sätze schrieb, durfte glauben, dass sein Leben diesen Sätzen folgen würde. Und wenn eine Verlobte Briefe eines solchen Mannes erhielt, durfte die Verlobte annehmen: dem Mann ist es ernst. Die Herzensergießung, wie blumig auch immer, galt damals als Tatsachenroman. Zu

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