Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Beginn der bürgerlichen Gesellschaft waren die Menschen dankbar, dass sie überhaupt über ihre Liebe schreiben durften. Aber Kleists Verlobte war skeptischer, das heißt zurückhaltender, wartender, klüger, als von einer Frau ihrer Zeit erwartet werden durfte. Wilhelmine von Zenge hatte eine einfache, schon damals wirksame Methode der Wahrheitsfindung: sie verglich die Pläne ihres Verlobten mit seinen Handlungen. Wie hatte Kleist doch geschrieben? »Eher als Du glaubst, bin ich wieder bei Dir in Frankfurt.« Tatsächlich kehrte Kleist nicht zurück, sondern reiste auf eine Weise, die der Verlobten ziellos erscheinen musste, in Deutschland, Frankreich und der Schweiz umher. Er studierte planlos mal Jura, dann Mathematik, dann die Naturwissenschaften, er drängte in den Staatsdienst und auch wieder nicht, schließlich wollte er Bauer in der Schweiz werden.
Wilhelmine bestürmte ihn, er möge doch bald »in sein Vaterland zurückkehren«, doch Kleist erkannte die Dringlichkeit dieser Bitten nicht oder er ordnete sie anderen Prioritäten unter. Tatsächlich war Kleist in einer Art fliehenden Suche unterwegs, weil er dringend Fingerzeige für seine Biografie suchte. Es gibt Hinweise, dass er von seiner wirren Zukunft als Dichter wusste. Wovon er keine Ahnung hatte – und wovon kein Dichter eine Ahnung hat –, war der Zeitpunkt, wann sich die Dichterei als handlungssteuerndes Element in seiner Biografie endgültig situieren und wann diese sich mit respektablen Werken bemerkbar machen würde. Die Verlobte zog sich innerlich zurück, ließ seltener von sich hören, bis Kleist merkte, Wilhelmine ließ es auf einen Bruch ankommen, der dann auch eintrat. Im Mai 1802 schrieb der nun 25-jährige, jetzt schroff gewordene Kleist an Wilhelmine:
»Ich werde wahrscheinlicher Weise niemals in mein Vaterland zurückkehren. Ihr Weiber versteht in der Regel ein Wort in der deutschen Sprache nicht, es heißt Ehrgeiz. Es ist nur ein einziger Fall in welchem ich zurückkehre, wenn ich der Erwartung der Menschen, die ich in thörigter Weise durch eine Menge von prahlerischen Schritten gereizt habe, entsprechen kann. Der Fall ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Kurz, kann ich nicht mit Ruhm im Vaterland erscheinen, geschieht es nie. Das ist entschieden, wie die Natur meiner Seele (…)«
Das ist ein merkwürdig vertrackter Brief, der Kleists Konfliktpyramide unverhüllt darstellt. Zurückkehren wird er nur dann, wenn er berühmt geworden ist. Berühmt werden muss er auf jeden Fall, denn er hat mit seinem zukünftigen Ruhm offenbar schon geprahlt. Aus dem Ruhm ist ein unangenehmer sozialer Druck geworden, den er mit seiner Hoffart selbst in die Welt gesetzt hat. Schuld an dieser Verworrenheit trägt indessen Wilhelmine, weil diese nicht versteht, was Ehrgeiz ist. Vermutlich vergiftete das Scheitern der Liebe Kleists Lebensgeschichte viel tiefer, als er je einzuräumen bereit war. Er verwandelte sich in einen jener Menschen, die mit bloßer Willensanstrengung verhindern können (eine Weile jedenfalls), dass eine Katastrophe ihre Innenwelt berührt. Zu einer neuen, mit dem gleichen Überschwang und dem gleichen Ernst ausgestatteten Liebesbeziehung ist es in Kleists Leben nicht mehr gekommen. Stattdessen gibt es zwei weitere biografische Einschnitte, von denen ebenfalls starke Erschütterungen zurückblieben. Der erste Komplex liegt zeitlich vor dem Desaster mit Wilhelmine und wirft einen langen Schatten auf dieses. Kleist hat seine stärksten Katastrophen fast noch als Kind erlebt. Er war elf Jahre alt, als er seinen Vater verlor. Als hätte das nicht schon gereicht, versetzte ihm seine rätselhafte Mutter einen weiteren Schlag. Sie gibt ihn in die Obhut eines Erziehers, das heißt, sie löst ihn aus dem familiären Zusammenhang heraus. Aus den Quellen ist nicht ersichtlich, was die Mutter zu diesem Schritt veranlasste. Reicht ihre materielle Not als Begründung? Die Majorswitwe hatte sieben Kinder zu versorgen, und obwohl sie nach dem Tod ihres Mannes den König um Unterstützung anflehte, erhielt sie keine Rente. Vermutlich war der finanzielle Aspekt nicht ausschlaggebend für die Trennung von ihrem Sohn. Von einer Freundin der Familie wissen wir, dass Kleist »schon seine Kindheit (…) verbittert« war, »da seine Erzieher die eigentümliche Organisation des Knaben zu beachten nicht der Mühe wert hielten«. Nach Kleists Tod berichtete C. E. Albanus an Tieck, Kleist sei »ein nicht zu dämpfender Feuergeist« gewesen, »unstet«
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