Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
denen keine Überraschungen mehr zu erwarten sind. Gegen diese finsteren Sozialzwänge preist er als Allheilmittel das emphatische Liebesgefühl, fragt dann aber nicht weiter, wie die Liebe im Nahkampf der Alltagsinteressen überleben soll. Diese Erkundigung hätte aus Altenberg einen sozialkritischen Autor gemacht, der er nicht sein wollte und wohl auch nicht konnte. Insofern hat Altenberg bis ins Alter von den Kraftquellen einer gedehnten Post-Pubertät gelebt. Anders gesagt: Hinter seiner charmanten Weltzuwendung steckte eine jugendliche Weltverweigerung; dabei fehlte es ihm entschieden an Häme, er wollte auf keinen Fall ein Satiriker oder Spötter werden. Die ihm eingeborene Duldsamkeit für alles Werdende ließ ihn auch die »Unmöglichkeit« des eigenen Lebens hinnehmen. Schon in jungen Jahren gewöhnte er sich daran, die Nähe des Untergangs zu ertragen. Seine Art zu leben – als Lohnschreiber in Hotelzimmern – zwang ihn, ein Gezeichneter zu werden, der sein Gezeichnet-Sein fortlaufend verwischte, mal vor den anderen, mal vor sich selbst.
Der wachsenden Anerkennung von außen folgte kein ökonomischer Aufstieg in äußerlich »bessere« Verhältnisse. Wie viele bedeutende Dichter (denken wir an Adalbert Stifter, Franz Kafka, Italo Svevo) hat Altenberg seine Heimatstadt nur kurzfristig und ungern verlassen. Der bürgerliche Begriff der »Karriere« war ihm fremd; er verzichtete darauf, in seine Biografie im Sinne eines »Aufstiegs« einzugreifen. Ein einziges Mal fuhr er in die Fremde – nach Stuttgart. Natürlich nicht, um etwas aus seinem Leben zu machen. Lassen wir ihn selbst sprechen: »Mit 23 Jahren liebte ich ein wunderbares 13jähriges Mädchen abgöttisch, durchweinte meine Nächte, verlobte mich mit ihr, wurde Buchhändler in Stuttgart, um rasch Geld zu verdienen und für sie sorgen zu können später. Aber es wurde nichts aus alledem.«
Es war wohl so, dass Altenberg, sobald er sein »Schicksal« gestalten wollte, auf die Fragilität seiner Voraussetzungen stieß – und lieber untätig blieb. Seinen Anstrengungen, ein bürgerlich-praktischer Mensch zu werden, mangelte es entschieden an Ernsthaftigkeit; seine Versuche in dieser Richtung sollten vor allem seine beunruhigten Eltern beschwichtigen. Das Abitur hatte er gerade noch geschafft, aber dann (ab 1878) begann er mit einem Jura-Studium, dem er nicht lange treu blieb. Man kann sich leicht vorstellen, wie es den Luftgeist Altenberg vor der Systemsprache der Juristen gruselte. Schon nach ein paar Monaten floh er vor dem Jura-Studium in die Medizin, mit der er auch nicht zurechtkam. Nach dem Abbruch des Stuttgarter Experiments kehrte er in die Heimat zurück, und zwar nach Graz, um es mit dem Jura-Studium ein zweites Mal zu probieren – und scheiterte erneut. Nach übereinstimmender Auskunft seiner Biografen erlosch nach diesem Anlauf Altenbergs (wie auch immer schwacher) Wunsch, in der bürgerlichen Welt Fuß zu fassen.
Anlässlich einer ärztlichen Untersuchung im Jahre 1882, vom Vater veranlasst, wird bei Altenberg »angeborene Überempfindlichkeit des Nervensystems« festgestellt. Das Passwort »Überempfindlichkeit« war die Übersetzung für Neurasthenie, eine damals grassierende Befindlichkeit für alle, die mit den wetterleuchtenden Anforderungen der Moderne nicht fertig wurden. Die Folgen des Befunds sind dramatisch. Altenberg gilt künftig als berufsunfähig. Der Vater betätigt sich eine Weile als Sponsor, die Mutter jedoch hatte sich einen zupackenden, die Welt zu seinen Gunsten ausnützenden Nachfahr gewünscht – und bestand darauf, dass sich ihre Wünsche bewahrheiteten. Es kommt zu einem Zerwürfnis zwischen Mutter und Sohn, das sich nicht mehr kitten lässt. Vermutlich hat Altenberg unter dieser ödipalen Katastrophe mehr und länger gelitten, als ihm selbst je bewusst wurde. Er löst sich aus dem familiären Zusammenhang und landet in einer melancholischen Bohème, die nur notdürftig als freie Künstler-Existenz etikettiert wird.
Dennoch ist Altenberg einer der wenigen Schriftsteller, die ihr »Glück« gekannt und an ihm festgehalten haben. Er hat gewisse Anteile dieses Glücks immer mal wieder in Wirklichkeit »umsetzen« können. Dieses Glück war die Welt der Erotik evozierenden Kindfrauen, ein Glück, das man sich als Mensch und Leser nicht unbedingt zu eigen machen muss, aber anerkennen kann. Die Utopie des »gefundenen Glücks« ist vermutlich einer der Gründe für Altenbergs anhaltende Beliebtheit. Er ist
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