Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Verstand‹, sagte der Vater lächelnd (…)«
An dieser Stelle schaltet sich der Erzähler ein:
»Ich habe ein so trauriges Gesichterl nie gesehen! Es erbebte gleichsam wie ein Strauch unter Schnee-Last (…)«
Auch drei Seiten später kann der Erzähler sein Mitleid mit dem Mädchen nicht bändigen. Jetzt räsoniert er: »Ich hätte dem Vater gerne gesagt: ›Herr, schauen Sie dieses Marien-Antlitz an! Sie hat ein brechendes kleines Herz!‹
Er hätte mir geantwortet: ›Mein Herr, c’est la vie! So ist das Leben! Es können nicht alle Menschen im Caféhaus sitzen und vor sich hinträumen – – ‹«.
Dieser Verlaufsform folgen viele Geschichten von Peter Altenberg. Es sind Geschichten von blitzartigen Verwandlungen. Ein Mädchen betritt einen Raum und wird vom Erzähler sogleich zu einem Engel ohne Flügel, zu einer Erscheinung mit Marien-Antlitz stilisiert. Wenig später wird das Mädchen von einem gefühllosen Rohling, in diesem Fall vom eigenen Vater, herabgesetzt beziehungsweise diskriminiert. Jetzt mischt sich der Erzähler ein und verwandelt das geschmähte Mädchen zurück in eine anbetungswürdige Gestalt.
Die Art, wie die Verwandlungen ablaufen, ist im gleichen Maß unglaubwürdig wie bezaubernd. Dem erzählerischen Oppositionsprinzip – (äußerliche) Herabsetzung und (innere) Bezauberung – folgt oft auch der Textaufbau. Der Leser kann nur selten abschätzen, ob Altenbergs Stücke durchkomponiert oder eher zufällig zusammenphantasiert sind. Sie folgen damit der Dschungeldramaturgie des erotischen Lebens. Unklar ist oft schon, ob im Zentrum einer Anziehung zwischen zwei Menschen die Freude der Einbildung, das Tiefengehabe der Seele oder das Geflacker des physischen Verlangens den Ton angibt. Der Charme, der in diesem Durcheinander entsteht, ähnelt der Schlampigkeit des Wirklichen und macht Altenbergs Texterotik in hohem Maße authentisch. Altenbergs »Helden« bleiben stets Amateurproblematiker; sie sind dem Weltwissen der Leser in keiner Weise überlegen. Das Erstaunlichste ist vielleicht, dass Altenbergs Liebhaber weder abgefeimt noch zynisch, noch verächtlich sind, obwohl sie in der Langeweile der wiederholenden Liebe gut bewandert sind. Obgleich Altenbergs Liebhaber (und ihr Autor) altmodisch anmuten, so sind sie doch in einem eminenten Sinne modern; sie wissen schon um die vorige Jahrhundertwende, dass der (vermutlich) einzig übriggebliebene Ort der modernen Literatur das Subjekt ist, das sich seiner beschränkten Mittel bewusst wird. Insofern ist das wirklich Neue die Diskretion: Das Ich des Menschen lernt still und klaglos seine Eigenart begreifen. Genau dieser (verinnerlichte) Ort der beschränkten Mittel ist auch der Ort der Moderne im Wien der Jahrhundertwende. Im Schein einer äußerlich verblendeten Belle Époque entsteht ein phantastischer Fatalismus, der lange brauchen wird, bis er sich zu sich selbst bekennt. Der Grund für die lange Inkubation ist die Frage, ob die Menschen mehr durch sich selbst oder mehr von der Welt »draußen« erschreckt werden.
Durch die oft wiederkehrenden Handlungsorte in Altenbergs Skizzen (auf der Esplanade, in einer Allee, entlang einer Promenade, an Seeufern, auf einer Veranda) entsteht der Eindruck, man befinde sich als Leser in einem überlangen Stück von Tschechow. Wie bei diesem fällt bei Altenberg die Eleganz der Übergänge auf, und ähnlich wie Tschechow thematisiert Altenberg die dauernde Verwandlung des Realen durch eben eintretende Veränderungen, die durch ihren Minimalismus kaum auffallen. Sein poetisches Verfahren hat Altenberg so ausgedrückt: »Ich möchte einen Menschen in einem Satze schildern, ein Erlebnis der Seele auf einer Seite , eine Landschaft in einem Worte !« Eben noch sind wir Zeuge einer kindlich undeutlichen Annäherung zwischen den Geschlechtern, aber dann rutschen wir unversehens in das »stumme schwere Leben«, in die »Landmelancholie« oder gar in einen »Stadtkerker«. Obwohl er heute als eine Art Repräsentant der Belle Époque gilt, so war Altenberg doch keineswegs ihr Sprachrohr und noch weniger ihr Propagandist.
Im Gegenteil; man darf sagen, dass er inmitten des Glamours seiner Zeit eine präzise Wahrnehmung von deren Untiefen behielt. Er hatte außer seiner Zartheit für das Unverstandene gleichzeitig ein Auge für die Deklassierten, für die Nervösen, die Überforderten und die schon fast Halbverwirrten, für deren psychische Zustände sich damals das Wort von der »Überspanntheit« einbürgerte.
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