Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
und »der Exaltation selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend«. Ganz offenkundig neigte Kleist schon als Kind dazu, seine Mitmenschen zu überfordern, genau so, wie er zehn Jahre später seine Verlobte überforderte.
Zu Kleists Begriff von Tapferkeit gehörte, eine Katastrophe auf jeden Fall zu überleben, und zwar auch dann, wenn das Ich dabei zu einem Krüppel seiner selbst zu werden drohte. 1803 nennt sich Kleist (in einem Brief an seine Schwester Ulrike) einen »unaussprechlichen Menschen«. Das war das Äußerste, was Kleist an Selbstkritik zeitlebens zustande brachte. Heiner Müller nannte Kleist an dieser Stelle (vor siebzehn Jahren) einen »sehr gestörten« Menschen. Mir kommt diese Prädikatisierung unglücklich vor, weil sie Kleist die Alleinschuld an den Ausschreitungen seines Männlichkeitsideals zuschiebt. Jeder, der lebt, wird zum Teilhaber des Entsetzens seiner Zeit, und niemand überlebt die Durchfilterung seines Ichs, ohne einen Teil der objektiven Gewalt als subjektive Gewalt privatisieren zu müssen. Die Gesellschaft wartet immer gerne darauf, dass bei dieser intimen Operation einer verrückt wird, weil ihre eigene immanente Gestörtheit dabei unzensiert öffentlich werden und dabei gleichzeitig besichtigt, toleriert und verurteilt werden darf.
Fünf Jahre nach Kleists Vater starb auch die Mutter. Kleist war jetzt fünfzehn und trat als Gefreiter-Korporal in das Garderegiment Potsdam ein. Er ist jetzt das, was wir heute einen Kindersoldaten nennen. Es ist merkwürdig und schauderhaft, dass das Wort Kindersoldat erst in unserer Gegenwart in unseren Wortschatz eingewandert ist; das Wort kennzeichnet mit rätselhafter Verspätung mehrere Jahrhunderte historischer Gewalt an männlichen Kindern. Es ist ein Zeichen dieser verheimlichten Gewalt, dass Kleist in keinem einzigen seiner vielen Briefe je von seiner Kindheit und Jugend erzählt hat. Es ist, als hätte er die Kindheit und die Adoleszenz mit zusammengebissenen Kiefern ausgehalten. Ein Kindersoldat verhält sich auch zu sich selbst wie ein ranghöherer Militär. Er lebte in einer sich selbst fortzeugenden Stummheit, die er auch später nicht aufgebrochen hat. Dass etwas nicht stimmte mit diesem verstümmelten Leben, zeigte sich 1799, als Kleist, jetzt 22 Jahre alt, die Welt des Militärs überraschend verließ. Auf diese Idee war ein männlicher Angehöriger der Familie Kleist zuvor nicht gekommen. Kleist entstammte einer traditionsreichen Offiziersfamilie, deren Ideale über das allmähliche Hineinwachsen in den Soldatenrock kaum je hinausgekommen sind.
Mit der Abwendung vom Militär vertauschte Kleist die Erwartbarkeit des heißen Todes auf dem Schlachtfeld mit dem schleichenden Tod im frühbürgerlichen Überlebenskampf. Tatsächlich hat er auch diesen nicht gewonnen. Nach dem Abschied vom Militär bis zu seinem Selbstmord lebte er in einer inneren Katastrophenverfassung, die sich besonders in seinen Erzählungen abbildet. Vom Umgang mit meinen eigenen inneren Katastrophen weiß ich, dass wir Katastrophen zum Zeitpunkt ihres Geschehens nicht einmal am heftigsten erleben; viel stärker wirken sie als Einschüchterung von Zukunft. Man kann sagen: einmal eingetretene Katastrophen reifen im Gemüt des Menschen nach – und werden dabei erst richtig monströs. Stets erweist sich, dass es in der Katastrophe, ist sie einmal eingetreten, keinen Experten und also auch keinen Ratgeber gibt. Auch der Katastrophenbewanderte kennt sich in ihnen nicht aus. Obwohl sich die Katastrophe in unserem Inneren zuträgt, betrachten wir sie von außen; die versuchte Objektivierung ist vielleicht die größte Katastrophe, die dem Betroffenen nicht aufgeht. Es ist nicht originell, sondern bloß naheliegend, in Kleists Katastrophenszenarien ein nach außen gestülptes Fiktionsgerüst seines dramatischen Ichs zu sehen. Sonderbar bleibt, dass Kleist auf die Darstellung von Innenwelt fast vollständig verzichtet. Das ist insofern rätselhaft, weil auch Kleist bekannt war, dass jede Katastrophe einmal vorübergeht, die Erfahrung mit ihr aber niemals. Nicht einmal auf eine angemessene Reflexion eines zurückliegenden Scheiterns lässt sich Kleist ein. Ist ein Unglück eingetreten, schiebt er gleich das nächste nach. In den Erzählungen fehlen fast vollständig Reflexe der Scham und der Melancholie, an denen es den Protagonisten doch nicht mangeln kann. Vermutlich war Kleist die weiche und konfuse Innenwelt zu unsoldatisch. Seine Figuren arbeiten sich an der äußeren
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