Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Schale der Ereignisse ab. Diese Art der Konfliktbewältigung war auf jeden Fall männlich-ereignisüberwindend. Insofern kann man sagen, Kleist hat auch mit militärischer Disziplin erzählt. Als Leser hat man zuweilen den Eindruck, Kleist selber nimmt den Standpunkt der Katastrophe ein, nicht die Empfindung derer, die sie erleiden.
In der Fixierung auf die Äußerlichkeit der Schrecken vernachlässigt Kleist zuweilen sogar die erzählerische Plausibilität. Die Marquise von O. mag bis zum Schluss nicht glauben, dass sie eine »unwissende Empfängnis« hinter sich hat. »Sie entdeckte sich mit völliger Freimütigkeit ihrer Mutter, und sagte, sie wisse nicht, was sie von ihrem Zustand denken solle. Die Mutter, welche so sonderbare Zufälle für die Gesundheit ihrer Tochter äußerst besorgt machten, verlangte, dass sie einen Arzt zu Rate ziehe.« Die Marquise kann nicht aufhören, sich über die »unbegreifliche Veränderung ihrer Gestalt« zu wundern, und sucht Aufklärung bei einer Hebamme. Ist es möglich, dass Kleist im Gedränge der Wunderlichkeiten übersehen hat, dass die Marquise ja bereits zweimal entbunden hat und vertraut ist mit dem Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und Fortpflanzung und deswegen über die Vorboten der Mutterschaft nicht so staunen kann, wie uns Kleist staunen machen möchte?
Als Erklärung bietet sich an: der Reiz von Kleists Erzählweise liegt in der dramatischen Verkürzung aller Handlungswege. Nur in seiner Schlag-auf-Schlag-Diktion kommt das zustande, was Kleist vor allem interessiert hat: die Freilegung des traumatischen Kerns des menschlichen Existierens. Die Menschen erfahren nicht, mit welchem Ziel sie niedergebeugt und wieder aufgerichtet und wieder niedergebeugt und wieder aufgerichtet werden. Sie dürfen über den Wellengang ihres Geschicks nicht nachdenken, weil sie dabei zuviel Zeit verlieren und noch dazu in den Hinterhalt des Unglücks geraten. Das ist der Grund, warum Kleists Figuren kaum reflektieren: sie sitzen im Schleudersitz ihres Glückszwangs, der ihnen Besinnungspausen nicht gönnt. Das Glück am Glück ist seine Aufschiebbarkeit. Auch wer das Glück verfehlt hat, darf es wieder neu suchen, ohne sich von seinem Scheitern beeinträchtigt zu fühlen.
Hätte Kleist seinen Figuren erlaubt, ihre Lebensziele in Zweifel zu ziehen, das heißt: sich zu ihren Fiktionen zwiespältig zu verhalten und sie dadurch als Fiktionen zu durchschauen – dann wäre Kleist ein moderner Autor gewesen oder geworden, der er nicht war und seiner historischen Seinslage nach nicht hat sein können. Hätten Kleists Figuren ihr Scheitern reflektieren können, dann hätten sie sich in den Idiosynkrasien der Moderne einrichten müssen: wie Kleists späterer Bewunderer Franz Kafka, von dem noch zu sprechen sein wird. Wir, die unfreiwillig Modernen, haben uns daran gewöhnt, das menschliche Glück im Verhältnis zu unseren Kräften zu relativieren. Oder, wie Freud sagt: Glück ist oft nicht mehr als die Vermeidung von Unglück. Der vormoderne Kleist suchte noch das krasse Gegenteil. Der Drang seiner Figuren zu einem verfügbar handlichen Glück (denken wir an Michael Kohlhaas) – führt zu Entgrenzung und Tod. Kohlhaas bemerkt nicht, dass sich die Aufhebung eines ihm zugefügten Unrechts in ein Trauma verwandelt, das ihn mehr bedroht als das Unrecht selber. Das traumatisch gewordene Handeln setzt immer wieder neu ein, ohne je seinen Anfang zu zeigen. Daher die elliptische Figur des Traumatischen, die fortwährende Umzingelung eines unaussprechlich gewordenen Dramas. Michael Kohlhaas umsegelt den Konfliktkern mit stoischer Dynamik, ohne diesen Kern selbst je zu treffen; und das heißt, ohne ihn als Erfahrung weiter bearbeiten, und das meint: ohne ihn durch wiederkehrende Nachsicht mildern zu können.
Der literarische Ausdruck des katastrophischen Gefühls bleibt bei Kleist durchgehend körperlich. Seine Figuren zittern, ihnen steigt »die Röte ins Gesicht«, sie haben Fieberanfälle, sie erleiden Krämpfe – oder sie fallen in Ohnmacht. Die Marquise von O. fällt dreieinhalbmal in Ohnmacht; der hoffnungslose Findling erregt nur durch eine Ohnmacht das Mitleid des durchreisenden Güterhändlers Antonio Piachi. Michael Kohlhaas versinkt in einer Ohnmacht, als er erklären soll, »wer er sei«; und sein Gegenspieler, der Junker von Tronka, fällt gar »aus einer Ohnmacht in die andere«, wobei uns Kleist nicht verrät, wie wir uns eine solche Serie von Ohnmachten technisch denken sollen.
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