Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Bis heute gilt die Verletzlichkeit des Subjekts als ein privates Geschehen und ist deswegen kaum kommunizierbar. Insofern ist bei Kleist die Ohnmacht ein Versuch der Individuen, dem Sog des Traumatischen durch Öffentlichkeit zu entkommen. Durch eine Ohnmacht sind die einzelnen gekennzeichnet, und als Gezeichnete darf man sie auf ihre Ohnmacht, das heißt auf ihre Kränkung ansprechen. Damit haben sie den Kohlhaas’schen Panzer durchbrochen, den Kleist so formuliert hat: »Kohlhaas (…) gab (…) mit keiner Miene zu erkennen, was in seiner Seele vorging.« Die Ohnmacht ist ein bemerkenswerter Versuch des Subjekts, die Knebelung des Innerlichen zu verlassen und sich als ein Ich darzustellen, das von keiner geltenden Ethik, auch nicht der preußischen, diszipliniert werden kann. Weil die Ohnmacht als erzählerisches Mittel bei Kleist vergleichsweise häufig auftaucht, darf man sie als Zeichen des Aufbegehrens gegen den preußischen Drill verstehen. Das Zeichen ist zu Kleists Lebzeiten nicht verstanden worden; es hatte allenfalls formale Folgen: Der »Prinz von Homburg« durfte in Preußen nicht aufgeführt werden, weil auch in diesem Stück ein Offizier in Ohnmacht fällt.
Zu Lebzeiten Kleists konnten sich selbst kühne Gesellschaftsbeobachter nicht vorstellen, dass der Mensch in der bevorstehenden Moderne faktisch kaum noch in Ohnmacht fallen wird, obgleich es an passenden Anlässen kaum mangelte. Die ohnmächtig umsinkende Salondame wurde ein Stilmoment in Chaplins Stummfilmen, eine Sequenz der Lächerlichkeit, über die sich die Zuschauer zu amüsieren lernten. Dafür verlagerte das moderne Ich das Ohnmachtsgefühl als permanentes Überwältigtsein in die inneren Bezirke. Heute ist die verinnerlichte Ohnmacht zu einem gewöhnlichen Kulturgefühl von uns allen geworden. Diese brisante Übergangsstelle hat der vermutlich heftigste Kleistverehrer Franz Kafka zu einem wichtigen Moment des eigenen Schaffens gemacht. In einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer vom 2. September 1913 zählt er Kleist zu seinen »eigentlichen Blutsverwandten«. Wer die beiden Lebenswerke vergleicht, findet das Geständnis nicht nur einleuchtend, sondern literarhistorisch zwingend. Wir können sagen: Kafka hat die von Kleist nicht ausgeschriebenen Leerräume des Ichs mit passenden Texten neu ausgestattet. Besonders »Michael Kohlhaas«, den Kafka »wohl schon zum zehnten Male« gelesen hat, fühlt sich Kafka nahe. Er hat die Erzählung mit »wirklicher Gottesfurcht« gelesen. Michael Kohlhaas – wir erinnern uns – fällt schon deswegen in Ohnmacht, weil er erklären muss, »wer er sei«. Dieses ozeanische Ohnmachtsgefühl musste Kafka mitten ins Herz treffen. Die Scham darüber, dass ein Mensch nicht voraussetzungslos leben und sterben darf, sondern unter allen Umständen ein bestimmter Mensch mit einer biografischen Anstrengung sein muss, hat auch Kafka lebenslang beunruhigt. Dabei geht es nicht um die Konstruktion eines möglichst normativen, allgemein wohlgefälligen Lebenslaufs. Die »Gottesfurcht«, von der Kafka spricht, ist die Angst vor dem Zorn der Gottheit. Der Mensch muss sich als Versucher des Glücks verausgaben, um vor dem Strafgericht Gottes nicht als schöpfungsunwürdig zu erscheinen. Dieses eschatologische Moment steht sowohl bei Kleist als auch bei Kafka im Zentrum. Bis es soweit ist, dass sich das Leben des Menschen endgültig als ein gelungenes oder als ein nicht gelungenes darstellt, durchwandert der einzelne die endlosen Wälder der Scham, die ihn (wie bei Kleist und Kafka) immer wieder neu entblößen. Die Scham des Menschen ist eine unendliche Abfolge nicht erzählbarer Einzelheiten, in deren Verwirrung nicht wir, sondern nur unsere Scham zu Hause ist. Denn niemand schützt den Glückszwang vor seiner eigenen Unerbittlichkeit. Wir können sagen: Kafkas Werk ist der nach innen gewendete, der fortgeschriebene Kleist. Bei Kafka finden wir die Ausformulierung der Melancholie, die Kleist unter dem herrschenden Tapferkeitsdruck ausgeblendet hat. Die Konstellation KLEIST : KAFKA ist für uns deswegen so ergiebig, weil wir mit ihrer Hilfe begreifen, warum der Melancholiker die repräsentative Figur des 21. Jahrhunderts hat werden können. Kleist war der Herrschaft seiner inneren Moral noch ohne Gegenwehr ausgeliefert. Kafka wollte der Dominanz der inneren Moral entkommen, musste sich aber gleichzeitig vor den neuartigen Zugriffen der Gesellschaftsmaschine schützen. Im Augenaufschlag vor dieser doppelten Zumutung
Weitere Kostenlose Bücher