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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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erkennen wir uns bis heute wieder.

Das Überleben im Werk
Der Tagtraum als Fundament des Phantasierens
     
    Literatur und Psychoanalyse teilen das Interesse an der Erzählung menschlichen Lebens. Und beide haben ein gemeinsames Interesse an der Technik dieses Erzählens. Der Schriftsteller fragt sich immer wieder, ob ihm der richtige Zugriff, die richtige Form und die richtigen Wörter zur Darstellung einer Wirklichkeit zur Verfügung stehen. Die Zweifel der Psychoanalytiker sind fundamentaler; sie befragen fertige Erzähltexte (natürlich – und überwiegend – auch solche von Nicht-Schriftstellern), ob und auf welche Weise unbewusste Motive (und damit: verborgene Kausalitäten) berücksichtigt, übergangen oder verfälscht wurden – und wenn ja, wie und warum. Obwohl Schriftsteller andere Ziele verfolgen als Psychoanalytiker, befinden sie sich durch ihre zweiflerische Arbeitsweise gleichwohl im Zentrum dessen, was auch die Psychoanalyse bewegt. Dieses Zentrum ist eine gemeinsame Hintergrund-Überzeugung, die sich mit einem Satz fixieren lässt: Kaum ein Mensch kann seine eigene Geschichte hinreichend richtig erzählen. Deswegen glauben so viele Schriftsteller wie Analysanden nach einer Erzählung ihrer Geschichte, sie hätten sie nicht richtig erzählt. So fangen sie (viele von ihnen immer wieder) von neuem an, ihre Geschichte zu erzählen, ohne doch je dem Zweifel zu entkommen, sie könnten sie wenigstens einmal vollständig und vollständig richtig erzählen. Auch in dieser Beziehung ist der Zweifel der Psychoanalytiker fundamentaler; viele von ihnen neigen dazu, die Originalgeschichte eines Ichs für verschüttet und unzugänglich zu halten. Ja, im Grunde war diese Geschichte nie zugänglich gewesen, weil sie von Anfang an mystifiziert wurde von den symbolischen Erfindungen dessen, der sie erlebt hat.
    Die Arbeitsmittel sowohl der Schriftsteller als auch der Psychoanalytiker sind Erinnerungen und Phantasien und die schöpferischen Querverbindungen zwischen beiden. Sigmund Freuds Essay »Der Dichter und das Phantasieren« geht auf einen Vortrag zurück, den Freud am 6. Dezember 1907 in den Räumen des Wiener Verlagsbuchhändlers Hugo Heller, eines Mitglieds der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, gehalten hat. Eine überarbeitete Fassung des Vortrags erschien ein Jahr später in einer neu gegründeten Berliner Zeitschrift. Der Aufsatz ist nur wenige Druckseiten lang und enthält doch, wenn man von einer solchen sprechen will, Freuds Literaturtheorie. Freilich stößt, wer mit Freuds Vorstellungen vertraut ist, auch in diesem Essay auf Denkfiguren, die in den meisten anderen Texten dieses Autors ebenfalls auftauchen. Ich meine in diesem Fall die Idee der sogenannten ›Verschiebung‹ und der mit ihr zusammenhängenden Surrogatbildung. Für Freud war die Annahme einer autonomen Kunst nicht denkbar. Schreiben und Dichten waren für ihn niemals ursprünglich, sondern immer das Ergebnis einer psychischen Vermittlung, der Niederschlag einer internen Transformation, das heißt der bearbeitete Ausdruck von etwas anderem, der ohne die Arbeit der Verschiebung nicht zugänglich wäre. Wie Freud sich diese Verschiebung und die Literatur, die aus ihr hervorgeht, vorgestellt hat, beschreibt er so:
    »Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft; die Dichtung selbst lässt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch der alten Erinnerung erkennen.
    Erschrecken Sie nicht über die Kompliziertheit dieser Formel; ich vermute, dass sie sich in Wirklichkeit als ein zu dürftiges Schema erweisen wird, aber eine erste Annäherung an den realen Sachverhalt könnte doch in ihr enthalten sein, und nach einigen Versuchen, die ich unternommen habe, sollte ich meinen, dass eine solche Betrachtungsweise dichterischer Produktionen nicht unfruchtbar ausfallen kann. Sie vergessen nicht, dass die vielleicht befremdende Betonung der Kindheitserinnerung im Leben des Dichters sich in letzter Linie von der Voraussetzung ableitet, dass die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist.«
    In Freuds Haupttheorie, wonach sowohl die »Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens« sind, gehen Tagtraum und Dichtung ohne Rest ineinander auf. Freud fragt nicht danach, worin der spezifische, zusätzliche

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