Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
für den Tod beziehungsweise für Sterblichkeit beziehungsweise für die Angst vor beidem. In der mächtigen Metapher ›Schnee‹ würde ich, wäre ich ein Psychoanalytiker, einen Hinweis auf die im Lebensverlauf des Analysanden stark angewachsene Angst vor dem Objektverlust sehen. Sein Unbewusstes scheut sich inzwischen nicht mehr, ihm für den Fall des endgültigen und wirklichen Verlusts des Primärobjekts mit dem Schnee, und das heißt: mit dem Tod zu drohen. Wir begreifen, warum der Autor fürchtet – wir erinnern uns an den Ausschnitt aus der »Liebe zur Einfalt« –, im Fall des tatsächlichen und unumkehrbaren Verlusts verrückt zu werden, weil er nicht weiß, wie er nach dem Verlust anders als verrückt weiterleben soll.
Wer darin geübt ist, mit Symbolen und Metaphern zu arbeiten, weiß freilich auch von der enormen semantischen Strahlkraft, die von ihnen ausgeht. Ihre Bedeutungsmöglichkeiten sind so umfassend und unübersichtlich, dass wir von einem natürlichen Täuschungsgehalt aller Metaphern und Symbole sprechen dürfen. Dieser Sachverhalt ruft ein ebenso natürliches Misstrauen gegen sie hervor; es warnt jeden davor, die in einem Symbol oder einer Metapher mitschwingende Vielzahl von Konnotationen zu einer einzelnen Bedeutung auszudünnen. Das Misstrauen bedeutet in unserem Fall, dass wir die Gleichsetzung des Symbols ›Schnee‹ mit der Angst vor dem endgültigen Verlust des Primärobjekts auf keinen Fall absolut setzen dürfen. Wir werden gleich hören, wie wir das Symbol ›Schnee‹ außerdem verstehen können. Ich lese dazu ein weiteres, ein drittes Schnee-Stück vor; der Text ist dem Postkarten-Buch »Aus der Ferne« entnommen:
»Es war Nachmittag, und es begann zu schneien. Ich stand hinter dem Fenster und sah hinaus. Innerhalb kurzer Zeit brachte der Schnee zahllose neue Anblicke hervor. Das Zifferblatt einer großen Uhr wehte halb zu. Das Fahrrad an der Hauswand gegenüber hatte nach drei Minuten einen weißen Sattel. Eine leere Flasche, die seit Tagen im Straßengraben lag, verschwand ganz. Und ich spürte, dass mich der Schnee lockte. Wenig später verließ ich die Wohnung und stapfte auf der Straße umher. Die Autos fuhren ruhig wie endlich gezähmt dahin. Verlangsamt, fast wie kämpfend, ruckelte die Straßenbahn gegen den Flockenflug. Ein Kleinkind wimmerte leise; vielleicht fürchtete es, zugeschneit zu werden. Und tatsächlich, als die Mutter das Kind auf den Arm nahm, hörte es auf zu weinen. Andere, größere Kinder streckten die Zungen heraus. Die Kinder waren erpicht darauf, dass ihnen große Flocken direkt in den Mund flogen. Und wenn es passierte, schlossen sie rasch die Augen und entzückten sich an der überraschenden Kälte in ihrem Mund. Ich entdeckte im Schaufenster eines Briefmarkenhändlers ein paar Postkarten. Unter ihnen eine, auf der genau das abgebildet war, was ringsum geschah: Eine Straßenbahn und ein Auto fuhren durch den Schnee. Da wusste ich plötzlich, warum die weiße Verhüllung Heiterkeit auslöst: Dichter Schneefall ist die einzige Veränderung der Welt, die innerhalb weniger Minuten möglich ist. Ich betrat den Laden und kaufte die Postkarte. Denn leider ist Schnee nicht nur die leichteste und schnellste, sondern auch die hinfälligste Weltveränderung. Und wirklich, nach wenigen Minuten hörte es auf zu schneien. Der wie für die Ewigkeit hingelegte Schnee verwässerte, löste sich auf oder verwandelte sich in Matsch. Der Übermut der Kinder erlosch, die Dinge nahmen ihr gewöhnliches Aussehen an. Nur auf der Postkarte, die ich bei mir trug, schneite es noch immer.«
In diesem kleinen Text mobilisiert der Autor sein Misstrauen gegen seine eigene Symbolwirtschaft, in diesem Fall gegen die Metapher ›Schnee‹. Erzählerisch eingelöst wird das Misstrauen durch den Doppelauftritt des Symbols, durch den die Zweideutigkeit handgreiflich wird. Es gibt zum einen den realen Schnee, der gerade vom Himmel fällt und auf der Straße liegen bleibt, zum anderen den nur abgebildeten Schnee auf der Postkarte. Dann löst sich der Real-Schnee auf, beziehungsweise er verwandelt sich in Dreck und Matsch. Zurück bleibt der Schnee auf der Postkarte. Das heißt: Das Symbol verwandelt sich in Papier, Bild, Zeichen – es wird ästhetischer Schein. Der Real-Schnee ist verschwunden, der Autor behält allein die Postkarte (den Schein) zurück, was nur heißen kann: Er wird weiter mit dem ergiebigen Symbol ›Schnee‹ arbeiten, und er ist weit davon entfernt, dem Symbol
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