Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
das Privileg einer festen, unverrückbaren Bedeutung zuzusprechen. Wir sehen an dieser Stelle, wie sich die Bedeutung des Symbols ›Schnee‹ aufspaltet. Es kann erstens nach wie vor die Angst vor dem Verlust des Primärobjekts ausdrücken, es kann aber auch – zweitens – etwas ganz anderes meinen: Der Autor möchte (durch Schreiben, im Schreiben) vergessen, dass er selber sterblich ist, was ihm nur durch Schreiben gelingt, also im Werk, im Verstricktsein in einer persönlichen Sonderwelt, also in einer künstlich geschaffenen, nur für ihn geltenden Realität, die wir einen Schein oder eine innere Realität nennen können. Nach dieser Version bedeutet das Symbol ›Schnee‹ nicht Angst vor der Sterblichkeit, sondern das genaue Gegenteil: die momentweise omnipotente Ausblendung des Todes durch das Überleben im Werk. Durch das unstörbare Vertieftsein in die eigene Symbolwelt erlangt der Autor den Schein einer Unsterblichkeit, an der er jetzt schon Anteil hat. Pathetisch ausgedrückt: In den Augenblicken der Muße ist der Tod nicht da. Ich selbst kann nicht sagen, welche Version mir näher ist, beziehungsweise welche Version ich bevorzuge. Ich treffe in solchen Fällen keine Wahl, sondern ich arbeite – wir erinnern uns an den operativen Zugriff auf das Material – mit beiden Möglichkeiten. Der Autor handelt in gewisser Weise wie ein Analytiker, der während der Arbeit vergisst, dass er zu einem Ergebnis hatte kommen wollen. Dabei ist klar, dass die bloß literarische Aufhellung eines Materials mit dessen psychoanalytischer Durcharbeitung weder konkurrieren kann noch will. Auch der psychologisch gebildete Schriftsteller, der den einen oder anderen psychoanalytischen Einfall hat, ist kein Psychoanalytiker. Dieser hat einen Anspruch auf Heilung, der ihn zu einer Wahrheit nötigt, die nicht mehr gegen eine andere auswechselbar ist. Der Schriftsteller hingegen fühlt sich nicht unbedingt, sondern nur unter anderem der Wahrheit verpflichtet. Sein erstes Interesse ist die Darstellung; er hält sich an das Prinzip des Schöpferischen, das potentiell unaufklärbar ist und damit offen für eine unendliche Zahl von Darstellungsvarianten, die untereinander keine Wahrheitsansprüche erheben. Wir können auch sagen: Der schreibende Berufsträumer hält sich an einer entscheidenden Stelle zurück; er belässt das Geträumte in der Schwebe, er gesteht seine Machtlosigkeit vor der Übermacht der Rätsel. Ich lese ein letztes Schnee-Stück aus dem Roman »Die Kassiererinnen«, in dem der Respekt vor der Übermacht der Rätsel thematisiert wird:
»Zwei Jugendliche grinsten mich an. Sie waren zwischen zehn und fünfzehn Jahre alt, und ihr Grinsen war zuerst zwiespältig, dann höhnisch und herablassend. Einen Grund für ihr Grinsen konnte ich nicht ausfindig machen. Ich sah an mir herunter und wusste nicht, was an mir ich beanstanden sollte. Ich sah nicht besonders gut aus, ich ähnelte den anderen, die auch nicht besonders gut aussahen. Dennoch genügte das Grinsen zweier Halbwüchsiger, mich von diesen anderen zu trennen. Die Trennung stieß schubweise wie ein Frösteln in mich hinein. Momentweise glaubte ich, es schneite vielleicht in mir, und ich würde heute nicht mehr aus den Schneeflocken herauskommen können.«
Wir erkennen leicht, dass das Symbol ›Schnee‹ hier – sozusagen – die Gesamtverantwortung dafür übernimmt, dass sich dem Erzähler ein Stück Welt trotz aller Deutungssehnsucht nicht erschließt. Das heißt: Der Schnee wird zur Erklärung des Unerklärlichen. Er tritt unwirklich, als gedachte Metapher, in reiner Symbolgestalt auf. Der Autor unternimmt nicht den geringsten Versuch einer Interpretation. Der Schauer vor der Fremdheit des Erlebnisses ist zugleich der Schauer vor dem rettenden Symbol, das kurz aufscheint und sich rasch wieder in das Dunkel seiner Unaufklärbarkeit zurückzieht.
An dieser Stelle – und das heißt am Ende – komme ich wieder auf Freud zurück. Es gibt von ihm ein bemerkenswertes Eingeständnis. Wir finden es in dem Essay »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« aus dem Jahre 1910. Darin räumt er überraschend ein, dass – so wörtlich – »auch das Wesen der künstlerischen Leistung uns psychoanalytisch unzugänglich ist«. Diese erstaunliche Äußerung passt nicht zu den anderen Textstellen, in denen Freud, wie wir gehört haben, eben diese künstlerische Leistung mit der »Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer« erklären will. Ich denke, diese
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