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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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hinzunehmen. Lernen wir nicht als Kinder, in den Gesichtern von Vater oder Mutter den jeweils abwesenden Elternteil mitzusehen? Ich habe eine Weile sogar geglaubt, der Tod des Vaters habe mich nicht getroffen. Aber jetzt ist Mutter tot, und das bedeutet für mich, dass meine Eltern auf einmal gemeinsam gestorben sind. Die Gewissheit, dass sie nicht nur tot, sondern für alle Zeiten verschwunden sind, versetzt mich selber in ein Todesgefühl, vor dem ich mich zur Zeit nicht recht schützen kann. Es ist, als hätte ich nur gelebt, um eines Tages die Verlassenheit des Vaters und die Verstörtheit der Mutter zu erben. Aus Enttäuschung darüber, dass ich allein im Schnee übriggeblieben bin, möchte ich am liebsten einem beliebigen Passanten einen beliebigen Vorwurf machen. Zu einem Mann, der arglos über den Platz kommt, könnte ich sagen: Sie haben eine derart geschmacklose Jacke an, dass ich Sie bitten muss, diesen Platz ganz schnell zu verlassen. Ich spüre, wie ein verbotener Reiz zu meinen Lippen hindrängt und mich auffordert, den Mann anzuhalten und den Satz zu ihm zu sagen. Aber ich halte mich zurück. Die Fähigkeit, in gefährlichen Augenblicken stumm zu bleiben, bewahrt mich zur Zeit davor, verrückt zu werden. Allerdings muss ich mir Sorgen machen, ob ich zukünftig immer werde schweigen können. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem ich nicht ohne Zwischenfall nach Hause gehen kann. Dann werde ich eine kurze maßlose Rede halten, ich werde schreien und vielleicht ohnmächtig werden, und jeder, der mich in dieser Lage hört oder sieht, wird in mir einen Gestörten erkennen. Dann werde ich plötzlich von hinten an beiden Armen gepackt und weggeführt werden und in einer Anstalt verschwinden. Dort wird man mir eine Menge Fragen stellen, und ich werde immer wieder antworten: Ich verstehe nicht, warum ich mich plötzlich nach den Eltern sehne. Denn obwohl es mich schmerzt, dass sie nicht mehr da sind, bemerke ich, dass ich sie auch jetzt nicht liebe, sondern nur vermisse. Aber das reicht! Ich sehne mich nach ihrem trostlosen Anblick, nach ihren törichten Redensarten, nach ihren unbegreiflichen Verhaltensweisen, sogar nach ihrer kleinen Wohnung.«
    Zwischen dem Schnee-Tagtraum aus den »Kassiererinnen« und der soeben vorgelesenen Phantasie über die zwischen den Schneeflocken plötzlich hervortretenden Eltern, die sich ebenfalls einem realen Spaziergang im Schnee verdankt, gibt es eine eigentümliche Korrespondenz. Wir erinnern uns, das schlittenfahrende Kind – beziehungsweise: der während des Spaziergangs im Schnee über das Kind phantasierende Schriftsteller – hatte am Ende eines Nachmittags die aufregende Idee, auch im Dunkeln sehen zu können und sich dabei – zum ersten und einzigen Mal – furchtlos zu fühlen. Jetzt, in dem Roman »Die Liebe zur Einfalt«, bildet sich der Schriftsteller ein, im Schnee sogar die toten Eltern sehen beziehungsweise wiedersehen zu können. Das heißt, er bildet es sich nicht wirklich ein, er spielt nur eine Weile mit der Idee, und zwar mit dem Hintergedanken, das Spiel mit der Traum-Idee werde den Text freisetzen helfen, den ich soeben vorgelesen habe. Das heißt, der intentional herbeigeführte Tagtraum hat (in etwa) das hervorgebracht, was der Schriftsteller gemäß seiner Selbsterfahrung mit dem Ideenmittel ›Schnee‹ hat erwarten dürfen. An der Abfolge und am Zuschnitt der Ereignisse erkennen wir erneut den nicht bloß erduldeten und hingenommenen, sondern den operativen Tagtraum, die Struktur eines Stücks Arbeitstechnologie.
    Wäre ich ein Psychoanalytiker und hätte meinem Vortrag zugehört, würde mir an dieser Stelle eine Auslegungsidee einfallen müssen. Ich würde mich erinnern, dass ich zuvor über die Angst des Schriftstellers gesprochen habe, überraschend von seinem Text verlassen zu werden. Ich würde – genauso, wie Freud es beschrieben hat – zwischen dem manifesten Vortragsinhalt und den latenten Vortragsgedanken unterscheiden. Dann wäre es nicht mehr allzu schwer, im Text selbst , dessen Verlust immerzu befürchtet wird, eine Surrogatbildung für die Angst vor dem Verlust des primären Liebesobjekts, der Mutter also, zu erkennen. Dann wäre das Schreiben nichts weiter als die Konstruktion einer inneren Halterung, die eine Dauerwiederholung dieser Angst ermöglicht und gleichzeitig erzwingt. An diesem Punkt könnten wir auch verstehen, warum sich die Phantasien im Schnee oder während des Schneefalls ereignen. Schnee gilt gemeinhin als Symbol

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