Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
der Mutter. Wir sind durch den erschütternden »Brief an den Vater« über die Details dieses Scheiterns informiert. Nach den beiden Fehlschlägen – das Kind Franz Kafka war wie die meisten Kinder davon überzeugt, dass ihm nicht mehr als zwei Versuche zustehen – begann das Kind seine Wanderung durch die Verließe seiner Verstoßung, die uns heute vertraut und fremd zugleich vorkommen. Vertraut sind sie, weil wir sie teilen. Fremd sind sie, weil wir sie trotz Vertrautheit nicht annehmen. Ich denke, im Kern ist die Darstellung von Margarete Mitscherlich zutreffend. Wobei ich die Vermutung hinzufügen möchte: Nach Lage der Dinge war Julie Kafka, die Mutter, de facto nicht abweisend gegen ihren Sohn, eher im Gegenteil. Das Kind konnte den Code der Mutter nicht rezipieren und umgekehrt. Wobei wir nicht wissen, auch nicht andeutungsweise, wie der Blackout, das Verständigungsloch zwischen Mutter und Kind (das heißt: die Verdrehung der ›guten‹ Intention in ihr Gegenteil), entstanden sein mag. Wichtig ist nur: Aus einer halluzinierten Verstoßung wurde bei Franz Kafka die innere Wirklichkeit eines Ausgesetztseins. Aus der fortgesetzten Falsch-Auslegung eines Codes entwickelte sich bei Franz Kafka die Schulung eines Melancholikers, der aus seiner Trauer einen alltagsdienlichen Zufluchtsraum machte. Was heißt ›innere Wirklichkeit‹? Sie ist das Verhältnis einer subjektiv für gültig gehaltenen Wahrheit zu einer nicht auffindbaren wahreren Wahrheit. Innere Wirklichkeit ist das Für-wahr-Halten einer Perspektive, von der wir vergessen müssen, dass sie durch einen Webfehler im emotionalen Kontakt entstanden ist. Es ist ganz leicht, einem solchen Webfehler zum Opfer zu fallen. Nach meiner Einschätzung ist das Verhältnis des Menschen zu sich selbst durch drei markante Störungen gekennzeichnet: Erstens durch den Mangel der Sprache, der uns eine De-facto-Beschreibung unserer eigenen inneren Verhältnisse verweigert; zweitens durch unsere Erlebnisse mit dieser Beschreibung, von der wir nicht wissen, dass sie falsch ist; drittens durch das nachgeordnete Denken über diese Erlebnisse, das so falsch sein muss wie diese. Es ist nicht möglich, die drei Störungen so zu überleben, dass wir nicht gezwungen wären, wenigstens eine von ihnen zu phantomisieren. Phantomisierung heißt: Das rastlose Wiedererinnern einer Falscheinstellung macht aus dieser allmählich eine unbezweifelbare. So kommt zusammen, was ohne einander nicht auskommt: Fehlleitung, Kränkung und Überhebung. Der melancholische Mensch glaubt an die unüberbietbare Wahrheit seiner von ihm selbst aufgebauten inneren Optik. Diese Optik nimmt den Rang einer Existenzkonstruktion ein, die dem Melancholiker von niemandem streitig gemacht werden kann.
In der Melancholie trennen wir uns ohne Absicht von den anderen; in der Trauer trennen wir uns ohne Absicht von uns selbst. Durch die uns eingeborene Dauernähe zu uns selbst verwandelt sich die uns anfangs nur begleitende Melancholie in eine beobachtete Melancholie. Durch die Beobachtung wird sie heimisch. Sie wird künftig nicht mehr gestoppt und nicht mehr aufgelöst; sie verstetigt sich und wird ein alter Bekannter unseres Selbst. Ihr Drang, ein beherrschender Filter alles Lebendigen zu werden, ist dann kaum noch zu brechen. Der Kern der Beobachtung ist fluktuierend ambivalent. Einerseits steckt in ihr ein Seufzen über eine belästigende Disposition, andererseits ein Agreement: Du darfst mich betrüben, ich darf dich beobachten und ausbeuten. In einem Brief des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter an seinen Verleger vom 6. März 1849 finden wir den Satz: »Ich (…) lebe von meiner eigenen inneren Gestalt.« Wahrhaftiger und zugleich verhüllender kann man die inneren Verhältnisse eines Natur-Melancholikers nicht ausdrücken. In dieser Bemerkung steckt unausgesprochen auch das Lob der Melancholie. Für den melancholischen Adalbert Stifter, der sich selbst niemals melancholisch und erst recht nicht depressiv genannt hat, wurde das ehemals Untröstliche das Tröstliche: nur durch dessen Unbehandelbarkeit und also Unaufräumbarkeit. Man muss freilich berücksichtigen, dass zu Lebzeiten Stifters, das heißt im 19. Jahrhundert, die dekorativ verhüllte Melancholie ein gesellschaftlicher Zwang war. Dem Interesse der damaligen Gesellschaft an der Melancholie der Künstler lag ein gut funktionierendes Missverständnis zugrunde. Man hielt die Melancholie damals für ein Privileg; sie galt als
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