Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
verwandelt. Der Tagtraum delegiert die Energien des Schrecks an die Einzelheiten der Lebenswelt und verwandelt sie dadurch in Stimulantien. Die Transformation führt zu einem selbst wieder phantastischen Ergebnis: Der über sich selbst erschrockene Schriftsteller bannt im Tagtraum seinen Schrecken – und arbeitet weiter, das heißt: er phantasiert wieder.
Wir halten fest: Der Tagtraum ist eine Verhaltenspräparation; mit ihrer Hilfe gelingt die Entsorgung des Schrecks, ein Phantast zu sein. Niklas Luhmann würde dieses Verfahren ein selbstreferentielles System nennen; gemeint ist damit, dass ein bestimmtes Verhaltenssegment, das vorübergehend in eine Krise gerät, nur durch sich selbst wieder erneuert werden kann. Der Schreck, der das Ende des Textes androht, ist zugleich der Keim seiner Fortsetzung. Die Präparation ist eine Einstimmung, der Tagtraum ein Biotop. Ob der Schriftsteller wirklich von seinem inneren Text verlassen worden ist oder die Verlassenheit nur fürchtet, kann er im Dickicht der Bedrohungsgefühle nicht feststellen, ist aber auch ohne Belang. Wichtig ist allein, dass sich in der Melange von Bedrohung und Glück ein innerer Text durchzusetzen beginnt. Dieser Text ist der Beginn der Wiedervergewisserung, dass der Autor in Wahrheit nicht von seinem Text verlassen war. Es war alles nur ein inneres Theater, aber das Wunderbare des Theaters ist, dass es einen Text hinterlässt. Im Verlust und in der Wiederkehr des Textes bei gleichzeitigem Bewusstsein davon, dass beide Vorstellungen nur ›gespielt‹ sind, entsteht ein Stück Arbeitstechnologie. Trotz der zwischendurch auch unangenehmen Gefühle setzt sich am Ende doch der Schein einer friedlichen Koexistenz zwischen Talent und Talentausnutzung durch. Und es entsteht etwas noch viel Eindrucksvolleres: Aus der Selbstinszenierung des Tagtraums geht die Anmutung von Autonomie hervor. Gemeint ist einmal die Autonomie der Produktivität, zum zweiten die Autonomie des Selbstverstehens. Das Material des Tagtraums ist immer einem konkreten Ich assoziiert; es lässt sich auf die Lebensbahnen eines einzelnen, bestimmten Subjekts rückbeziehen. Jeder Einfall ist zugleich ein Fingerzeig für die Ausdeutung der eigenen Biografie. Der berufsmäßige Tagträumer kann die Chance des wachsenden Selbstverstehens nutzen oder ausschlagen. Vermutlich ist diese Wahl sogar das Fundament von Autonomie: Wir dürfen uns kennen, wir dürfen uns aber auch, wenn wir wollen, wie Fremde behandeln. Die meisten Schriftsteller halten sich von der Selbstdeutung fern; sie verstehen sich lieber als träumende, schwebende Instanz, die mehr am Verfahren als an seinen Ergebnissen interessiert ist.
Ich möchte diese Ausschweifung nicht abschließen ohne einen Blick auf die Arbeitsweise einer real existierenden Tagträumerei. Weil ich keinem Autor zu nahe treten möchte, verwende ich dazu Textsplitter aus eigenen Büchern. Wir erinnern uns, Freud glaubte, am Anfang des Tagtraums stehe die Erinnerung an ein »starkes Erlebnis«. Wir hatten dazu festgestellt, dass dieser Anfang des Tagträumens wahrscheinlich typisch ist für den Konfliktträumer. Für schreibende Träumer, die aus beruflichen Gründen notwendig auf Anregungen von außen angewiesen sind, ist das Gegenteil der Fall. Tatsächlich hat der Schreibträumer oft überhaupt kein Erlebnis, im Gegenteil, es herrscht die Erlebnisverlassenheit. Gerade das Ausbleiben von Erlebnissen ist der stille Skandal, der beendet werden muss. Schon an dieser Art des Zugriffs ist zu sehen, dass der Tagtraum hier einen anderen Funktionswert hat als beim Konfliktträumer, der seinen Tagtraum nicht selbst herbeiführt, sondern von ihm überrascht wird. Ich selbst kann im Winter der Erlebnisverlassenheit besser ausweichen als im Sommer, weil sich, wie ich bemerkt habe, das Umhergehen im Schnee auf die Erlebnis- und also auch: auf die Einfallslosigkeit aufhebend auswirkt. Dies ist der Grund, warum es in fast allen meiner Bücher eine oder mehrere Schnee-Szenen gibt. In meinem Roman »Die Kassiererinnen« sieht der Schnee-Traum so aus:
»Der seit Tagen liegen gebliebene Schnee hatte sich zu Eisklumpen verhärtet. Ich fuhr auf dem Schlitten immer wieder einen Abhang hinunter. Das war ein bisschen gefährlich, weil sich am Ende des Hangs eine tiefe Senke entlangzog. Wer wie ich mit hoher Geschwindigkeit in die Senke einfuhr, wurde leicht vom Schlitten geworfen und vielleicht gegen einen Baum geschleudert. Aber ich hielt den Schlitten mit beiden Händen fest
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