Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Widersprüche gehören in das Reich von Freuds zärtlicher und gleichzeitig rigider Fixierung an seine eigenen Konstruktionen, von der wir am Anfang gehört haben. Wir können auch großzügig denken und annehmen: Freuds Werk gehört inzwischen selbst zu den Rätseln, denen der Status der Schwebe wie selbstverständlich zukommt.
Der Verdacht gegen das Totsein im Leben
Über Trauer und Melancholie
Kein Mensch ist darauf gefasst, dass er sich selbst ein ganzes Leben lang nahe sein wird. Durch diese Selbstnähe entstehen schon bald eigentümliche Verhältnisse der Verwerfung, der Begütigung, der Illusion und des Betrugs. Das Ich, das sich betrachtet, hat keinen Supervisor; es muss sich damit abfinden, Einzelgutachter zu werden und zu bleiben. Die Gutachtertätigkeit beginnt mit einem eingeborenen Missverständnis oder, vielleicht zutreffender, mit einer Fehleinschätzung. Schon im Kindesalter sind wir als Gutachter gefordert. Das Kind weiß noch nicht, dass es in seinem Inneren immer auf dasselbe schauen wird, noch dazu als sein einziger Zuschauer. Das Kind glaubt, es hat Mitgutachter – die Eltern, die Geschwister, die Freunde. Das Kind darf annehmen, es sei – durch Geburt – veröffentlicht. Es weiß noch nicht, was es heißt, an der Seltsamkeit des Lebens teilzunehmen, die (unter anderem) durch die Vereinzelung des Auf-sich-selbst-Sehens entsteht. Es hat noch keine Ahnung von der Isolation des Ichs, obwohl es bereits in dieser Isolation lebt. Auf die erste Fehleinschätzung folgt die zweite. Das Kind glaubt, es gebe für seine inneren Tatsachen einen allgemein bekannten Code, eine Art Verstehensanleitung. Schon befinden wir uns in zwei schiefen Verstrickungen: Nicht wir selbst sind uns vertraut, sondern vertraut wird uns, dass wir fremd sind. Und weil zur Innenwelt des Kindes eine starke moralische Fixierung hinzutritt, neigen wir dazu, aus der schwierigen Verständigung mit unserer Innenwelt ein Unverstandensein zu machen. Damit ist unser kindlicher moralischer Hunger keineswegs gestillt. Wir gehen dazu über, das Unverstandensein in ein inneres Verstoßensein zu verwandeln. Dazu fühlen wir uns innerlich berechtigt. Nach den Schuldnern an der Verstoßung müssen wir nicht lange suchen. Es sind unsere Eltern, die uns verstoßen, das heißt von sich trennen, obgleich wir ihnen doch zugehören, was sie zwar nicht bestreiten, aber auch nicht wahr machen. Das Erweckungsdrama der Kindheit besteht darin, dass wir in Trennungen hineinwachsen, die so mächtig sind, dass wir sie als Trennungen nicht erfassen können. Aus dem Unverstandensein geht zunächst eine Teilverwerfung der Eltern hervor. Dann, im Eifer der Enttäuschung, wird aus der Teilverwerfung eine Ganzverwerfung. Das Kind, vermeintlich von den Eltern verstoßen, verstößt seinerseits die Eltern. Der erste Teil, die angenommene Verstoßung durch die Eltern, wird vom Kind als faktisch erlebt. Ich erinnere mich sehr gut, dass ich als Kind jahrelang geglaubt habe, ich sei in der Klinik, in der ich geboren wurde, versehentlich von Schwestern und Ärzten vertauscht worden. Ich war sicher, dass meine Eltern nicht meine wirklichen Eltern waren, und ich nahm mir vor, in meinem späteren Leben so lange zu suchen, bis ich meine richtigen Eltern ausfindig gemacht hätte. Später habe ich gehört, dass sehr viele erwachsene Kinder nach ihren richtigen Eltern suchen, und ich kam natürlich nicht auf den Gedanken, dass diese irritierten Kinder an einer Art Grundlagenstörung ihres Bewusstseins leiden könnten. Im Gegenteil; durch die große Zahl derer, die wie ich eine Auffassungsstörung durchlebten, wurde mein Irrtum nur noch wahrhaftiger.
Der zweite Teil, die innere Verstoßung der Eltern durch das Kind, wird vom Kind als naturhafte Vergeltung vollzogen, als Bestrafung für eine natale Schlampigkeit, auf deren Ausmaß sich das Kind mehr und mehr vorbereitet: Die Eltern sind zwei Leute, die wir kaum kennen. Ich erinnere mich an einen Vortrag von Margarete Mitscherlich über Franz Kafka vor ungefähr dreißig Jahren in der Universität Freiburg. Der Kern ihrer Darstellung war: Das Kind Franz Kafka suchte Anlehnung und Liebe bei der Mutter. Die Mutter, durch drei nachfolgende Schwangerschaften und fortlaufende Mitarbeit im Galanteriewarengeschäft ihres Mannes immerzu überbeschäftigt, verhielt sich unzugänglich bis ablehnend. Das Kind Franz Kafka unternahm einen zweiten Versuch mit dem Vater, der im Ergebnis noch katastrophaler ausfiel als der Erstversuch mit
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