Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
und hatte außerdem mein Körpergewicht so gut verteilt, dass es mich nicht vom Schlitten warf. Ich war deswegen stolz auf mich. Aus Begeisterung über meine Geschicklichkeit bewunderte ich sogar die kleinen Eiszapfen an meinen Hosenbeinen. Auch als es dämmrig wurde, fuhr ich weiter den Abhang hinunter und fiel nicht vom Schlitten. Und als es ganz finster war, schloss ich die Augen und fuhr den Hügel blind hinunter und stieß nirgendwo an und fiel wieder nicht vom Schlitten. Dann ging ich nach Hause und sagte, dass ich seit heute auch im Dunkeln sehen könne. Meine Mutter schwieg und gab mir ein frisches Nachthemd; ich ging in mein Zimmer, schaltete das Licht aus und zog mir im Dunkeln das frische Nachthemd an. Danach trat ich vor meine Mutter hin und behauptete erneut, dass ich seit heute im Dunkeln sehen könne. Das war das erste und ich glaube das einzige Mal, dass ich mich furchtlos fühlte.«
Zu diesem Tagtraum im Schnee ist zu sagen, dass seine banalen Anteile autobiografisch und seine außergewöhnlichen Anteile erfunden sind. Banal ist, dass Kinder im Winter Schlitten fahren, dass sie dabei eigentümliche Lusterfahrungen machen und dass sie deswegen, wie bei vielen Lusterfahrungen, zu keinem Ende kommen wollen, also bis in die Dunkelheit hinein Schlitten fahren möchten. Bis dahin stimmt die Erinnerung im Buch mit meiner eigenen Erlebniserfahrung überein. Danach beginnen die außergewöhnlichen Anteile: dass der kindliche Schlittenfahrer glaubte, im Dunkeln sehen zu können, und dass er sich dabei – das einzige Mal – furchtlos gefühlt habe. Diese beiden Details hat es im autobiografischen Sinne nie gegeben, sie sind Hinzufügungen eines erwachsenen Träumers, der Schriftsteller geworden ist und der den Text einer banalen Kinderverlustigung mit zwei ungewöhnlichen Details anreichern wollte. Und dem die Einfälle dazu während des Umhergehens im Schnee »gekommen« sind.
Ich erwähne diese Art der Zusammensetzung, um die Arbeitstechnik eines herbeigeführten Tagtraums anschaulich zu machen. Der Spaziergang des erwachsenen Schriftstellers findet statt, weil das Umhergehen im Schnee seinen Ideenhaushalt in eine operative Stimmung versetzt. Die operative, das heißt: die eingreifende Stimmung hilft ihm, einen vorhandenen Erinnerungstext nachträglich zu dynamisieren, salopp gesagt: interessant zu machen. In einem früheren Roman, in »Die Liebe zur Einfalt« aus dem Jahre 1990, finden wir die folgende Schnee-Szene; sie steht ganz am Anfang des Buches:
»Ich warte darauf, dass aus dem Gewimmel der weißen, rasch sich auflösenden Flocken meine Eltern hervortreten werden. Ich weiß, dass dies nicht geschehen wird, trotzdem halte ich Ausschau nach den vertrauten Gestalten meiner Mutter und meines Vaters. Ein paar Augenblicke lang glaube ich, dass sie sich nur verstecken. Sie haben Spaß daran, mich warten zu lassen, wahrscheinlich beobachten sie mich sogar. Oder sie wissen nicht, dass ich in ihrer Nähe bin und nicht länger darauf warten kann, mich endlich an ihrer friedfertig gewordenen Tapsigkeit zu erfreuen. Und dann, im Schneetreiben, werden wir uns endlich begrüßen und füreinander interessieren können. Eben das haben wir, solange wir zusammen gelebt haben, nicht getan. Vater war ein schweigsamer, vielbeschäftigter Mann und deswegen meist abwesend. Mutter war eine erschreckte und kraftlose Frau, die nicht wusste, wie sie nach ihren Enttäuschungen weiterleben sollte. Zwischen ihnen wuchsen meine Geschwister und ich heran, und ich bin sicher, dass wir alle, die Eltern eingeschlossen, an keinem einzigen Tag das Gefühl hatten, in einer Familie zu leben. Damit werden wir jetzt anfangen können, wenn meine Eltern endlich aus dem Schneegestöber hervortreten. Aber die Stadt ist voller alter Menschen, von denen viele meinen Eltern ähneln. Manchmal denke ich: Da sind sie! Und dann habe ich mich doch wieder geirrt. Mein Blick springt angestrengt hin und her, damit ich zwischen den vielen einander ähnlichen Bildern das einmalige Bild meiner Eltern nicht verfehle. Dabei weiß ich jetzt schon, dass ich vergeblich warte. Das Schneetreiben geht vorüber und meine Eltern sind wieder nicht erschienen. Das alles ist peinigend und vielleicht fast schon ein wenig verwirrt. Denn mein Vater ist schon seit fünfzehn Jahren tot, meine Mutter allerdings erst seit wenigen Wochen. Ich habe fünfzehn Jahre in der unbemerkten Annahme gelebt, ich brauche, solange Mutter am Leben ist, den Tod des Vaters nicht wirklich
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