Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Produktionsgnade, als göttliche Auszeichnung. Noch Hofmannsthal und Rilke haben alles getan, um den Leidensdruck hinter der Melancholie zu verschleiern. Das lesende, depressionsabgewandte, obwohl schon depressionsgeübte Bürgertum war ihnen dafür dankbar. Wer melancholisch war, war auch ein Ästhet, und wer ein Ästhet war, galt als privilegierter Mensch. In der Melancholie wurde eine höhere, schönheitsnahe Wahrheit vermutet. Der Melancholiker war ein geniehaltiger Mensch, ein Botschafter himmlischer Mächte. Möglicherweise würden diese Tröstungen noch heute fortwirken, hätte sich das Auftrittsgebiet der Melancholien und Depressionen nicht dramatisch erweitert. Wie jeder weiß, gelten sie heute als Volkskrankheiten. Die milden Täuschungen früherer Zeiten sind uns nicht mehr erlaubt.
Zum Zeitpunkt, als ich vermeintlich von meinen Eltern verstoßen wurde und daraufhin diese vermeintlich verstieß, war ich etwa dreizehn Jahre alt. In derselben Zeit begann ich Kafka zu lesen. Beide Trennungen, die aktive und die passive, sind in seinem Werk prototypisch vorgebildet. Zum Dank dafür, dass ich seine psychische Lebensgeschichte als eine Art Vorverstehen meiner eigenen Lebensgeschichte verwenden konnte, nahm Kafkas Werk eine prominente Stelle in meiner Innenwelt ein. Denn der melancholische Mensch ist jemand, der die ihm nächsten Menschen gerne heimlich zurechtweist, anklagt und richtet. Der Höhepunkt dieser Gutachter-Tätigkeit ist die finale Abrechnung. Kafkas berühmter »Brief an den Vater« ist ein Grundlagentext für jeden Melancholiker. In Kafkas Tagebuch-Aufzeichnungen aus dem Jahre 1912 finden wir eine überaus charakteristische Bemerkung; sie lautet: »– alles geschah mir für immer –.« Wir sehen in diesem Satz eine präzise Abbildung der melancholischen Tätigkeit. Aus einem (eigentlich bloß temporären) Erlebnis wird ein Schicksal. Aus einer (eigentlich nur pubertären) Hilfswirklichkeit wird eine innere Autorität; deren psychische Auswirkungen sind praktisch grenzenlos und uneingeschränkt: alles geschah mir für immer . Es herrscht die zeitliche und räumliche Allmacht einer Empfindung.
Ich möchte den Text einer solchen Verstoßung vortragen und ein paar Bemerkungen dazu machen. Der Text ist nur eine Druckseite lang und ist meinem 1990 erschienenen Roman »Die Liebe zur Einfalt« entnommen; dort heißt es:
»In dieser Zeit bemerkte ich zum ersten Mal, dass es etwas gab, was mir half: das Schreiben. An Sonntagnachmittagen saßen Vater und ich manchmal miteinander am Tisch, und Vater bemerkte nicht, dass ich vieles von dem, was er machte oder nicht machte, auf der Stelle niederschrieb. Vater glaubte, dass ich meine Schularbeiten erledigte, und fand mein Schreiben deswegen nicht auffällig. Er saß da und blätterte in einer Illustrierten. Blätterte er die Seiten zu schnell um, schrieb ich: Er ist unfähig, sich für ein Thema zu interessieren. Blätterte er die Seiten langsam um und beugte sich gar über ein Bild, lautete mein Urteil: Er interessiert sich für die Banalitäten einer Illustrierten. Ich bemerkte damals nicht, dass ich mir durch diese Art der Distanzierung selber eine verächtliche Art des Empfindens aneignete. Vater hatte das größte Verbot, das es damals für mich gab, nicht beachtet: das Verbot, mich zu enttäuschen. Nach einer Weile blickte er von der Illustrierten hoch und schimpfte über amerikanische Filmschauspieler, weil es diesen erlaubt oder möglich war, drei- oder viermal zu heiraten. Ich blickte Vater an und schwieg. Ich verstand nicht, wie es möglich war, dass ihn ein solches Thema beschäftigte. Ich beugte mich über meine Papiere und schrieb ein paar empörte Sätze darüber nieder, dass ein Mann, der doch ein Erfinder war, sich für die Ehen törichter Filmschauspieler interessierte. Eine halbe Stunde später legte Vater den Kopf auf die aufgeschlagene Illustrierte und schlief ein. Unter den Bewegungen seines Kopfes knautschte das Papier der Illustrierten. Es genügte ein geringes Geräusch, dann wachte Vater wieder auf. Er schreckte hoch und fasste unwillkürlich nach der Illustrierten. Er blickte mich an und warnte mich mit schläfriger Stimme vor den Frauen. Frauen hindern Männer daran, das zu tun, was sie tun wollen, sagte er. Danach erhob er sich, legte sich im Wohnzimmer auf die Couch und schlief dort weiter.«
In diesem Text stecken gleich mehrere melancholische Keime, offenkundige und nicht offenkundige. Zunächst fällt – wenn man das so
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