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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sagen kann – ein Fall von ödipaler Rache ins Auge: Der erzählende Sohn zeigt sich erschüttert und heimlich erbost über den Vater, weil dieser beim Durchblättern von Illustrierten amerikanische Filmschauspieler beschimpft, die das Geld haben oder berühmt genug sind, sich bis zu viermal zu verheiraten. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich bemerkt habe, als ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt war (der Roman »Die Liebe zur Einfalt« ist das einzige direkt autobiografische Buch, das es bis heute von mir gibt), dass sich hinter der melancholischen Wut des Vaters ein kaum verhüllter Neid verbirgt. Vermutlich habe ich damals nicht erkannt, dass sich der Vater ebenfalls eine andere, neue Frau wünschte, wofür ich damals keine Einfühlung hatte, heute schon. Deswegen ist eher unwahrscheinlich, dass mir bei der Niederschrift der Szene ihr ödipaler Vordergrund bewusst war. Obwohl ich schon über vierzig war, als ich den Roman schrieb, führte noch immer eine melancholische Vergeltung die Schreibhand: Der Erzähler lastet dem Vater an, dass er banal war. Er las den billigsten Schund und räsonierte über Filmschauspieler. Das war für den nach höheren Seinsgründen strebenden Sohn ein niederschmetterndes Eingeständnis. Ein intimerer Grund für die innere Verstoßung liegt darin, dass der Sohn den Anschub für sein Schreiben ausgerechnet diesem Vater verdankt. Auch diese schmerzliche Koinzidenz war mir weder in der Erinnerungs- noch während der Schreibzeit bewusst. Dann, nach dem Einschlafen und Wieder-Aufwachen am Tisch, beschuldigt der Vater für sein Versagen auch noch die Frauen. Der Topos des Versagers, der für sein Versagen einen Schuldigen braucht, ist ein notorisch billiges Motiv, in dessen Billigkeit der Vater dann selber versinkt. In den Augenblicken des Untergangs hält der Sohn dem Vater dessen besonderen Anspruch vor: Der Vater ist (so heißt es im Text) »ein Mann, der doch ein Erfinder war«, und ein Mann mit diesem Anspruch ist jemand, der auf eigene Faust die Schöpfung bereichert und deswegen allgemeine Hochschätzung beanspruchen darf. Ein Mann mit einem solchen Anspruch darf sich ein Scheitern nicht erlauben. Genau dieses unmäßige Scheitern war dem Vater zugestoßen: Er hatte eine Maschine erfunden, die vom Patentamt nicht anerkannt werden konnte, weil es eine solche Maschine bereits gab. Die Schmach, nicht nur »normal« zu scheitern wie wir alle, sondern mit einem extremen Anspruch, setzt die pubertär-moralischen Verurteilungen des Sohnes ins Recht. Man muss sehen, dass der Sohn inmitten des (sozusagen) laufenden Verfahrens gegen den Vater sein eigenes Projekt, wenn man will: seine eigene Erfindung in die Welt setzt, und das ist das Schreiben. Der Erzähler wird, indem er den Anspruch seines Vaters verurteilt, selbst zu einem Erfinder, zum Erfinder eines Textes über einen abgedankten Erfinder. Nicht ausgesprochen wird, dass der Sohn die Angst vor dem Scheitern bereits teilt. Er, ein Schriftsteller-Anfänger, ist der Möglichkeit des fundamentalen Scheiterns genauso ausgeliefert wie der Vater – und bannt gerade mit diesem seine eigene Angst. Und dies hinter dem Rücken, aber dennoch im Angesicht des Vaters, der für die moralische Selbstinthronisation des Sohnes gleichwohl gebraucht wird. Der Erzähler kann kein Ich werden, ohne sich auf melancholische Weise über das Ich des Vaters zu erheben und es dabei zu verstoßen beziehungsweise von sich abzutrennen. Lacan spricht einmal (in den »Vier Grundbegriffen der Psychoanalyse«) von der »Trennungskraft des Auges«. Es ist – nach Lacan – der menschliche Blick, der die Notwendigkeit von Loslösungen (das heißt auch: die Unmöglichkeit von Bindungen) erkennt und diese mit seiner Anstoß nehmenden Trennungskraft dann auch vollzieht. Es fließen in dem Text mehrere Trennungsbewegungen gleichzeitig zusammen. Das »Enttäuschungsverbot« ist – vermutlich – ein Melancholieverbot bei gleichzeitig einsetzender Melancholie. Es wird ausgesprochen in dem Augenblick, als der Sohn in der Kläglichkeit des Vaters die Großartigkeit seines Beobachtens erlebt. Die Trennung wird wirksam, als der Sohn geschmackliche Defizite des Vaters, von diesem unbemerkt, niederschreibt. Die Trennung ist bedeutsam und übersteigt gleichzeitig das Vermögen des Sohnes, weil die Banalität des Vaters in keinem Verhältnis steht zur Ungeheuerlichkeit seines Einflusses. Dieser Einfluss wird mit der Trennung gestoppt – und geht dennoch weiter, wovon der Sohn zu

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