Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
es uns leichtfällt, eine Schuld zu erfinden, und gleichzeitig so schwer, einen Ich-Mangel zu dulden.
Über das Schicksal alternder Melancholien will ich ein Beispiel anfügen. Es ist schon einige Monate her, dass ich zum Geburtstag eines früheren Kollegen eingeladen war. Der Kollege wurde sechzig, die Feier fand in einem Hotel statt. Mit mir waren noch andere frühere Kollegen eingeladen, außerdem die Schwestern und Brüder des Jubilars und deren Ehepartner – und selbstverständlich die Mutter, eine Frau von zweiundachtzig Jahren, eine agile, aufmerksame, neugierige Frau. Den ganzen Festtag über war die große Geburtstagstafel fast durchgängig mit Vorspeisen, Hauptgängen, Nebengängen und Nachspeisen üppig ausgestattet. Einmal, am Spätnachmittag, trugen die Ober Kaffee und verschiedene Sorten Kuchen in den Raum. Dem Kaffee wurde reichlich zugesprochen, der Kuchen hingegen blieb weitgehend unbeachtet, sicher auch deswegen, weil schon eine halbe Stunde später das Abendessen angekündigt war. Die Mutter des Jubilars sah bedenklich auf die Kaffeetafel mit den prächtig aufgeschnittenen Kuchen. Nach einer Weile sagte die Mutter, und ich hörte es: » Ich schneide Kuchen nach Bedarf auf.« Es war deutlich, was ihr nicht gefiel: die Vielzahl der vorschnell und vielleicht vergeblich (beziehungsweise umsonst) aufgeschnittenen Kuchen – und das unangenehme Gefühl, dass die verfrüht aufgeschnittenen Kuchen der Eintrocknung und womöglich der Vernichtung anheimfielen. Ich merkte, wie mich nach wenigen Minuten eine melancholische Verstimmung überkam, und ich wusste auch warum. Ich kannte den Satz der Frau – »Ich schneide Kuchen nach Bedarf auf« – so ähnlich von meiner Mutter. Sie verwendete den Satz mit einer kleinen Abweichung: »Ich schneide Kuchen nach Wunsch auf.« Meine Mutter sagte den Satz bei ähnlichen Anlässen mit dem gleichen Hintergrund: Die Vorsorge sollte dem erwartbaren Verbrauch angemessen sein. Man sollte, wenn die Leute voraussichtlich gar keinen Hunger haben, nicht derartig viele Kuchen gleichzeitig aufschneiden. Genauso dachte auch meine Mutter. Ich habe den Satz während meiner Jugend – und auch späterhin – oft gehört. Und eines Tages bereitete mir der Satz eine ungeplante Erleuchtung. Ich verstand plötzlich, dass der Satz ein Ausdruck des gesamten emotionalen Haushalts meiner Mutter war. Sie gab Gefühle oft nur dann frei, wenn es für sie einen Bedarf oder einen Wunsch gab. Bedarf und Wunsch schätzte sie freilich selbst ein. Ich muss nicht lange ausführen, dass diese Bedarfseinschätzungen spärlich ausfielen. Vermutlich lag (und liegt) diese Spärlichkeit in der Logik der Gefühle: Wer diese nach selbst eingeschätztem Bedarf vergibt, leidet gewiss nicht unter Anfällen von Verschwendung.
Ich hatte diesen Satz schon lange nicht mehr gehört, meine Mutter ist seit vielen Jahren tot. Und jetzt, auf der Geburtstagsfeier des Kollegen, war meine Mangeljugend wieder frisch da und mit ihr die Melancholie von damals, als mir zum ersten Mal deutlich wurde, dass der Satz von den nach Bedarf aufgeschnittenen Kuchen viel mehr regelte als nur das Tagesgeschick von aufgeschnittenen Kuchen. Ich fühlte, die Wiederbelebung der Melancholie war lange nicht so stark wie deren Uraufführung, aber doch immerhin so heftig, dass ich an der Festtafel tief in meinen Stuhl sank und dachte: Wie soll ich denn jetzt wieder hochkommen? Dabei wusste ich bereits von ähnlichen, früheren melancholischen Unterspülungen, dass mir nur eines helfen würde: die Auswechslung der Atmosphären. Also erhob ich mich und verabschiedete mich für die Dauer eines mittleren Spaziergangs. Meine Hoffnung war, durch den Spaziergang in einen anderen Bild- und Assoziationszusammenhang hineinzugeraten. Wer in einer Stadt lebt, darf mit solchen raschen Bildwechseln rechnen. Wenn ich in melancholischen Stimmungen umhergehe, neigen meine Empfindungen zu einem inneren Kult der Armut. Es gibt schnelle Übergänge von der Melancholie zur Fremdheit, wobei Fremdheit etwas von außen Hinzugefügtes ist, die Melancholie aber innerlich bleibt. Unangenehm ist nur, dass die Melancholie und die Fremdheit (sozusagen) gemeinsame Sache machen. Dann gefallen mir plötzlich schlechtgekleidete Alte, verkommene Obdachlose, halb verwahrloste Kinder; das heißt, mir fällt auf, ich wiederhole die Selbstgefühle, die ich als Dreizehnjähriger hatte, als ich als vermeintlich Verstoßener in der Stadt umherlief und nicht entscheiden konnte, ob
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