Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
diesem Zeitpunkt noch nichts weiß. Im Kern einer Melancholie steckt die Aufforderung, diese künftig zu beobachten; im Kern der Beobachtung steckt eine Distanzierung, und in der Distanzierung steckt eine zunehmende Selbst-Imprägnierung gegen die Wiederkehr des Mangels. Es blitzt die endlose Enttarnung eines melancholischen Stroms auf, der in seiner Unaufhörlichkeit von seinem jugendlichen Beobachter geahnt, nicht aber dingfest gemacht werden kann. Was dabei entsteht, ist eine Art Wandermelancholie; sie wird immer wieder angenommen und wieder verlassen. Die ihm zugestoßene Melancholie fließt ein in das Werk. Bei anderen Menschen, die kein Werk hinterlassen, fließt sie in die lebensbegleitende Rede. Bei Menschen, die von ihrer Melancholie schreiben oder reden, bildet sich allmählich eine Präparation heraus. Ist diese Präparation einmal gefunden, kann in ihr vieles gesagt werden. Erst die Präparation erlaubt den Sprechern, mit der Melancholie insofern frei umzugehen, als über diese dann auch phantasiert werden kann. Es ist Melancholikern dann möglich, ihre melancholische Abkunft momentweise zu verdrehen, zu verfälschen, zu vergessen. Das verschmerzende Phantasieren ist das Eingeständnis, dass die Melancholie im Kern nicht verstanden worden ist. Wenn man, wie Wittgenstein empfohlen hat, das Sprechen als eine Tätigkeit auffasst, dann wäre das Von-der-Melancholie-Sprechen nicht mehr nur ein Umkreisen eines unbewussten Zentrums, sondern ein Dennoch-Aussprechen des Unaussprechlichen, ein kräftezehrendes Als-ob, welches das Verstehen simulieren muss, um sprechen zu können. Aus der melancholischen Erzählung wird dann ihrerseits eine unbeendbare Trennung, ein inneres Anlehnungsverhältnis. Oder, anders gesagt: Die unverstandene melancholische Quelle muss immer neu abgestraft werden, und indem sie abgestraft wird, baut sich das Gegenschicksal des melancholischen Überlebens auf.
    Die letzte Schicht des Erstaunens über den jugendlichen Erzähler ist die beklemmendste, sicher auch die schwierigste. Man muss froh sein, dass der Protagonist zum Zeitpunkt des Romangeschehens von diesem Problem offenkundig noch nie etwas gehört hat. Mein Einstieg ist der vielleicht merkwürdigste Satz in dem vorgelesenen Abschnitt. Ich wiederhole ihn noch einmal: »Vater hatte das größte Verbot, das es damals für mich gab, nicht beachtet: das Verbot, mich zu enttäuschen.« Der Autor tut so, als gebe es eine reale Vorfindlichkeit eines solchen Verbots und außerdem die Möglichkeit einer ebenso realen Befolgung. Er lastet dem Vater an, dass er das Verbot nicht kennt. Der Vater hat wieder einmal versäumt, sich kundig zu machen, genauso, wie er vergessen hat, sich zu orientieren, ob es die Erfindung, an der er arbeitete, in der Wirklichkeit nicht schon geben könne. Mit anderen Worten: Er lastet dem Vater an, dass dieser von der Vollständigkeit des Ich-Apparats offenbar nichts weiß. Nur eine solche Vollständigkeit des Ichs wäre eine hinreichende Grundlage für eine Verstehbarkeit des eigenen und des fremden Ichs. Die schmerzende Realität, dass wir nicht restlos verstehbar, weil nicht komplett sind, mag er nicht nur nicht hinnehmen, sondern auch nicht denken. Er setzt lieber eine umfassende Reziprozität aller Iche in die Welt und kommt auf diese Weise um die Entdeckung herum, dass unser Ich mangelhaft, ja defekt konstruiert ist und gerade deswegen besondere Verstehensleistungen der Menschen erfordert. Für den Mangel der Unvollständigkeit gibt es in der Literatur zahlreiche Beschreibungen; ich zitiere eine einzige, eine sehr frühe (sie stammt aus dem Jahr 1835), weil sie das Defizit mit kargen, authentischen Mitteln einklagt. Zu Beginn des zweiten Akts von »Dantons Tod« stellt Georg Büchner so kalt wie nüchtern fest: »Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns etwas, ich habe keinen Namen dafür –.«
    Man sieht jetzt den Mechanismus der Szene: Der Erzähler umgeht einen Schmerz mit der Erfindung einer Schuld. Er selbst scheint bereit, diese Schuld zu teilen. Ich schließe diese Offenheit aus seinem Satz: »Ich bemerkte damals nicht, dass ich mir durch diese Art der Distanzierung selber eine verächtliche Art des Empfindens aneignete.« Mit dieser Teilhabe ist es dem Erzähler möglich, die Unfassbarkeit der Schuld selbst zu ertragen. Denn mit einer Schulderfindung ist es für uns leichter, uns in der Unbegreiflichkeit eines Mangels dauerhaft einzurichten. Rätselhaft bleibt dennoch, warum

Weitere Kostenlose Bücher