Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
meine Verlassenheit meine Erfindung, meine Schuld oder mein Leiden war. Der immer bloß portionsweise aufgeschnittene Kuchen trieb mich immer weiter umher, in die alte melancholische Überheblichkeit hinein, das heißt in das Gefühl, ich allein sei wissend, eine negative Großartigkeit.
Dann hatte ich Glück. In einer kaum frequentierten Nebenstraße entdeckte ich einen großen Umzugs-Lkw mit Anhänger. Beide, der Motorwagen und der Anhänger, hatten geöffnete Ladeluken. Vier Möbelpacker schleppten Schränke, Lampen, Stühle, Kommoden, Sofas aus einer nahe gelegenen Wohnung. Die Ladearbeiter schoben einige Möbel sofort in den Wagen, andere stellten sie erstmal auf dem Gehweg ab. Die Möbel auf dem Gehweg fielen (sozusagen) aus der Rolle – und erzeugten damit heitere, fast komische Effekte. Die Kinder des umziehenden Paars empfanden die komische Zwittersituation der Möbel am deutlichsten und partizipierten an der öffentlich gewordenen Ambivalenz des Intimen und Privaten. Sie hopsten lachend auf dem Sofa herum, als hätten sie das noch nie mit solcher Freude getan, sie spielten Familie und luden Vorübergehende dazu ein, in ihrer Ad-hoc-Familie mitzuwirken.
Das Zittern vor dem Verdacht, dass der Kuchen immer noch nach Bedarf aufgeschnitten wird, löste sich wieder auf. Es ist der sonst rasch größer werdende Verdacht, dass das Leben, je länger man an diesem teilhat, ohnehin nur nach schwer auffindbaren Regeln abläuft. Man kann auch sagen: Eine als gestaltlos empfundene Melancholie sucht ihre Form. Meine Melancholie, durch innere Bilder evoziert, wurde durch äußere Bilder wieder aufgelöst. Mein von Zersetzung bedrohtes Ich baute sich wieder neu zusammen. Es gibt Melancholie, aber der geübte Melancholiker kennt auch die Verbündeten gegen sie. Vielleicht trösten uns nur solche Vorgänge, die nicht als Unterhaltung firmieren, weil deren überraschende Transzendierbarkeit unsere inneren Spannungen enthärten. Man kann auch formulieren: Der menschliche Sinn ist ein unablässig tätiges Umspannwerk. Ich wollte schon beinahe wieder zurückkehren zur Geburtstagsfeier, da ereignete sich ein wundervolles Detail. Die Frau der Umzugsfamilie trug einen leichten Übergangsmantel mit Bügel aus dem Haus heraus. Es war offenbar der Mantel, den sie während der Umzugsfahrt tragen würde. Bis sie ihn brauchte, hängte sie ihn samt Bügel in das Geäst eines Baums, der im Garten vor dem Haus stand. Es wehte ein leichter Wind, der den Mantel im Baum hin und her drehte. Das Bild entzückte mich augenblicklich. Ein Mantel ohne Füllung, dennoch beweglich, ein totes und dennoch lebhaftes Objekt, das meine Phantasien sofort anzog. Manchmal wurde der Wind etwas heftiger und drehte den Mantel einmal ganz um sich selbst herum. Man könnte sagen: Der tote Mantel ahmte momentweise das Verhalten der Menschen nach, ihren Verdacht gegen das Totsein im Leben, der sie selber so oft todähnlich macht. Man kann auch behaupten: Ein Mantel zeigte seine Trennung. Er war ohne Mensch zurückgeblieben, jetzt drehte er sich sinnlos um sich selbst und drückte das Bilderverbot des toten Lebens aus, das sonst kaum zu durchbrechen ist. Wenig später erinnerte ich mich an die Trennungsprogramme des menschlichen Lebens überhaupt, von denen ich zu Beginn gesprochen habe. Zum ersten Mal hatte ich die Empfindung, dass diese Trennungen nicht sich selber meinen; sie sind Stellvertreter-Erlebnisse, die uns vor einer viel dramatischeren Erfahrung bewahren müssen. Sie sind verhüllte Hinweise auf unsere Endlichkeit, die wir als solche nicht erleben können, auch nicht die Nähe zu ihnen. Übrig bleibt nur der Anhauch durch ein Bild und das Drama, das sich ereignet, wenn wir das Bild in unseren inneren Angstvorrat aufnehmen. Dieser melancholische Transfer beschreibt auch die Differenz zwischen den beiden Melancholie-Typen, die ich hier einzufangen versucht habe.
Der Typ I ist eine bloße Wiedererinnerung. Das Wiederhören eines Satzes – »Ich schneide Kuchen nach Bedarf auf« – pustet einer untergegangenen Trauer vorübergehend neues Leben ein. Der Typ II ist ein sanftes Wiedereinschirren in unsere Grundmelancholie, die für kein Lebewesen etwas Neues ist, obwohl niemand den Text kennt, auf den sie sich bezieht. Die bloße Wiedererinnerung an die Grundtrauer ist deswegen so etwas wie das Treffen mit einem alten Bekannten. Das soll heißen: Indem wir dem Typ II der Melancholie begegnen, wird der Typ I in diesen eingeschmolzen. Als ein solcher, als ein
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