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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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von der Melancholie Verwandelter (vorher war ich nur von ihr belastet), kehrte ich in das Hotel zurück und nahm wieder teil an der Geburtstagsfeier.
    Das soll heißen: Der Melancholiker ist eine multiple, grenzwertige Persönlichkeit. Diese wird von Melancholien sowohl bedrückt als auch gelockert. Die Melancholie spielt in die Lückenhaftigkeit des Ichs hinein und betont dessen transitorische, prozesshafte Anteile. Vielleicht ist eine friedliche Koexistenz mit einer Melancholie nur möglich, wenn diese sich durch ihre eigene Prozessualität, durch ihr permanentes Unterwegssein, zerstreuen kann. Wichtig ist dann nicht das Wiederauftauchen eines melancholischen Details (der aufgeschnittene Kuchen), sondern der Durchbruch zu einer anderen Ebene (der Mantel im Wind), der aus einer Trauer ihr eigenes Metaphysicum macht. Wenn ich mir sagen kann: Die Grundmelancholie aller Lebewesen macht mich genauso sterblich wie eine Stubenfliege – dann tendiert der melancholische Gehalt dieser Einsicht fast gegen null. Der gebildete Melancholiker, und das meint: der durch die Wiederkehr seiner Melancholien immer besser vorinformierte Mensch weiß ohnehin, dass Melancholien Dauermieter im Ich sind. Es kann nur darum gehen, Ausgehformen für sie zu finden. Indem sie ausgeführt werden, verraten sie immer wieder von neuem, dass sie nicht hinreichend geklärt, sondern immer wieder durchlebt werden müssen. Die ausgeführte Melancholie ist eine stark verminderte Melancholie. Ihre Selbsterzählung hat einen großen Vorteil: Die Melancholie darf von ihrem Träger immer wieder neu umgedeutet werden. Der Melancholiker erlebt dabei nicht selten eine vorzeitige Selbstermüdung der Melancholie, die wiederum zu der Frage führt: Ist es möglich, dass sich mit der Zeit eine Art Überdruss an der Melancholie einstellt – der Überdruss als Kehrbild dessen, was vor sich selber flieht: der Ennui des immer wieder auftretenden Bekannten?

Ein Auftrittstreppchen fürs Ich
     
    Die längste Zeit des Tages will ich mein Ich nicht spüren. Dann bin ich nur froh, dass ich mal kein besonderer Mensch sein muss. Dankbar stelle ich fest, mein Ich hat sich vorübergehend eingeordnet in meine und in die Gewohnheiten der Mitmenschen und schwimmt unbemerkt im »Welt-Alltag der Epoche« (Hermann Broch). Ernst wird es nur, wenn sich dieses Ich plötzlich wieder herausgefordert fühlt. Dazu genügt, wie jeder empfindsame Mensch weiß, schon eine Kleinigkeit – eine blöde Anmache durch einen Kellner, eine ordinäre Kinoreklame oder ein arroganter Politiker: und schon ist die Subjektstörung da. Noch Hegel hat geglaubt, dass die äußeren Verhältnisse unser »Beisichselbstsein« nicht beeinträchtigen. Das würde sich Hegel heute noch einmal überlegen müssen. Er würde zugestehen, dass unser Ich eine wacklige Erfindung (geworden) ist, dem man den Traum der Souveränität immer nur eingeredet hat.
    Tatsächlich fehlt uns immer ein Stück zum Ich. Deswegen sind wir gerne unterwegs, um unsere Subjektlöcher zu stopfen. Der tätige Mensch sorgt dafür, dass das, was nicht »da« ist, aber gebraucht wird, durch ihn in die Welt kommt. Das heißt, er wird »aktiv«, er unternimmt »etwas«, um seinem Ich aufzuhelfen, und indem er das tut, landet er ganz schnell im »Erlebnis« – auf das auch kein Verlass ist. Ein Erlebnis kann gelingen, scheitert aber oft. Deshalb sollte das Erlebnis die Ausnahme bleiben und nicht die Regel werden; entlastet leben wir dann, wenn wir keine Extra-Erlebnisse brauchen.
    Natürlich kriegen wir das nicht alle Tage hin. Erst vor kurzem war ich selbst erlebnisbedürftig. Ich entschied mich für einen Zirkus-Besuch. Es war ein grauer, diesig vernebelter Tag. Man musste nahe an das Zelt herangehen, um durch den Nebel hindurch die Lichterketten zu sehen und, zum Beispiel, das Trompeten eines Elefanten zu hören. Ich merkte, dass mich schon diese Einzelheiten in eine gute Stimmung versetzten. Der Haupteindruck war das abgründig mittelmäßige Zirkus-Orchester. Eine herzergreifende Blechmusik, untermischt mit einer wiehernden Ziehharmonika, zwei oder drei schauderhaften Geigen und einem rabiat tumben Schlagzeug. Es war diese vermummte Musik, die mühsam und verzerrt aus dem Zelt herausdrang und die Leute verzauberte. Erklang hier nicht ein Fetzen einer schon lange erwarteten schlechten Seligkeit? Ein Bettler blieb stehen und hob sein mürbes Haupt. Zwei etwa zwölfjährige Mädchen küssten sich geschwisterlich und lachten. Für Augenblicke glich

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