Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
die Welt einem endlich geöffneten Märchenbuch. Drei Zirkus-Angestellte führten einen Schimmel, ein Kamel und ein Lama auf den Platz vor dem Zirkus und riefen durcheinander: Hereinspaziert! Heute Familienvorstellung! Herabgesetzte Preise! Plötzlich blieb das Kamel stehen, spreizte die Hinterbeine und fing an zu pissen. Unter dem Tier entstand eine breite Lache, der Urin dampfte in die Höhe. Ich merkte, die bessere Vorstellung fand außerhalb des Zeltes statt. Auch der Kamelführer geriet in die Abstrahlung des Komischen. Ich hatte nicht gewusst, wie lange ein Kamel pinkeln kann. Die Blase des Kamels hatte etwa das Fassungsvermögen von zwei vollen Eimern. Einem Kleinkind rutschte der Schnuller aus dem Mund und fiel in den Dreck. Das Kind blickte hilfesuchend nach der Mutter, aber die kicherte über das Kamel. Wunderbar schamfrei blickte das Tier über die Leute hinweg und nahm den Ausdruck von Würde und Größe an. Auch für ein pissendes Kamel gilt: Hier stehe ich und kann nicht anders. Viele der Zuschauer, die zu Beginn nur gelacht hatten, wurden ernst, fast respektvoll. Es sind solche betörenden, weil mehrschichtigen Anblicke, die das Ich öffnen, erweichen, beglücken. Ich blieb viel länger als vorgesehen. Meine bedürftige Seele erkannte seine Chance und bereicherte sich schamlos.
Denn solche plötzlichen inneren Zustimmungen zu einem fremden Bilderfilm sind immer auch eine Indikation für gelungene Weltverschwisterungen. Momentweise erscheint dadurch die übliche Trennung zwischen Innen und Außen aufgehoben. Das Individuelle (das Subjektive: das Unverwechselbare) ist das dann und wann eintretende Zufällige, das einen leeren Platz in uns ausfüllt. Deswegen wird sich, wer mit sich zusammentreffen will, zu einem stets empfänglichen Erfahrungskünstler entwickeln. Man muss (sozusagen) seinem Ich stets eine Art Auftrittstreppchen hinschieben – und hoffen, dass es die Gelegenheit nutzt.
Das ist zwar hinreichend bekannt, wird aber von vielen Menschen nicht angenommen. Die Verweigerer suchen immer noch nach »wertvollen«, »exklusiven«, »besonderen« Erlebnissen – als wäre die menschliche Erfahrung eine materielle Kategorie. Das einzige, was uns nie verlässt, ist unser innerer Text; er fungiert als eine Art Beruhigung. Wir müssen – fassungslos, wie wir sind – darüber besänftigt werden, dass unser Bewusstsein einer Ästhetik des Tricks folgt, die wir erst nach langer Beobachtung durchschauen. Ästhetik des Tricks soll heißen: Wir leben gleichzeitig in einem Durcheinander größter Bedeutsamkeit und größter Belanglosigkeit. Eben noch fühlen wir uns erleuchtet, zwei Minuten später stürzen wir ab in irgendeine blöde Beliebigkeit. Wer es geschafft hat, seinem Ich das Auftrittstreppchen nicht zu verweigern, wird die »Schlüpfrigkeit der Seele« (Virginia Woolf) gelassen ausbeuten. Manche Ich-Ästheten sind nach langer Übung in der Lage, zwischen den beiden zentralen Gemütszuständen (Beseeligung und Trauer) hin und her zu pendeln. Sie machen das Beste daraus, dass der Mensch sowohl an Ich-Mangel als auch an Ich-Überfluss leiden – und genesen kann. Aus gegebenem Anlass – angeblich gibt es schon »Augenblicks«-Therapien! – muss gesagt werden, dass man sich nicht von anderen Menschen sagen lassen kann, wie, wo und wann man seine besten Augenblicke hat und wie man an sie herankommt. Das Risiko des Leerlaufs ist dabei vergleichsweise groß, kann aber nicht »erspart« werden. Die Situation vor dem Zirkus hätte (zum Beispiel) leicht scheitern können. Als ich die traurig behäbigen Tiere herumtraben sah, erfasste mich augenblicksweise eine konventionell mitfühlende Identifikation mit diesen armselig missbrauchten Tieren. Nur durch das unerwartete Pissen des Kamels drehte sich das Setting; das gemeinschaftliche Lachen vieler Menschen war ein Indiz, dass auch die anderen Zuschauer eine Entspannung »gebraucht« haben.
Eine wohlmeinende Ex-Kollegin überraschte mich an Weihnachten mit einem unpassenden Geschenk. Meine säuerliche Mimik verriet leider viel zu schnell, dass mich die Gabe nicht beglückte. Dummerweise kam es anschließend auch noch zu einer Debatte darüber, warum ich einen MP3-Player für keine Bereicherung der Menschheit halte. Die Kollegin wusste leider alles besser. Du als individualistischer Fußgänger solltest dich nicht länger der öden Umwelt ausliefern, sagte sie, sondern deine Lieblingsmusiken hören! Ich will, erwiderte ich, nicht auch noch auf der Straße
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