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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Mozart & Co. hören, sondern ich will die Kakophonie des Wirklichen hören, sagte ich, die meiner zerzausten Seele auf wunderbare Weise antwortet und sie damit aufrichtet. Die Kollegin gab zu, mich nicht zu verstehen, und bat um Erklärungen. Ich muss, sagte ich, vom Genie Mozarts (zum Beispiel) nicht länger überzeugt werden, sondern ich will miterleben, wie mein zerfleddertes Ich in meinem eigenen Bewusstsein umhergleitet – und mir dabei möglicherweise das eine oder andere Licht aufgeht. Wenn ich mein Ich mit schöner Musik einsuhle, wird es sofort misstrauisch; mein Subjekt braucht die Unruhe, in der es lebt, als sein eigener O-Ton. Wir sind moderne, das heißt dauererregte Lebewesen, die sich nicht beschwindeln müssen. »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« (Ingeborg Bachmann). Dennoch meinen noch immer zahlreiche Menschen, sie seien künstlicher Harmonien bedürftig, um die Fremdheit ihres Ichs zu mildern. Zwischen der Goethe-Zeile »So lasst mich scheinen, bis ich werde« (aus »Wilhelm Meisters Lehrjahre«) und dem erquickenden Ausspruch »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu« (von Ödön von Horváth) besteht nur eine scheinbare Epochendifferenz. De facto beschreiben beide Zitate unser heutiges Grundproblem: Wir müssen mit einem Ich zurechtkommen, das uns dreist unsere Bruchbudenhaftigkeit zeigt – die wir dann auch noch als Vorteil erleben sollen.

III
     

Wir sind nicht verbindlich genug
in der Welt
Giorgio Morandi und seine Stilleben
     
    Die Sujets, mit denen sich der italienische Maler Giorgio Morandi beschäftigt hat, sind seit einigen hundert Jahren veraltet. Es waren holländische Meister, die im 17. Jahrhundert immer wieder Gläser, Krüge, Früchte, Schüsseln und Blumen gemalt und damit das »Stilleben« (niederländisch: »stilleven«) in der Kunstgeschichte etabliert haben. Morandis stilistisches Programm, die quasi gegenständliche Abbildung, ist noch erheblich älter als seine Sujets. Selbst das Changieren zwischen Körperform und Abstraktion, das Morandi für die Bilder seiner Spätphase gewählt hat, ist seit dem Impressionismus nicht mehr ganz frisch. Aber Morandi hatte keine Angst vor Wiederholungen und keine Scheu vor den Tabus der Kunstgeschichte. Er fürchtete sich nicht vor gängigen Meinungen, zum Beispiel vor dem Dogma, dass die Zeit des Realismus endgültig vorüber sei. In Wahrheit kann man nichts von dem, was unablässig und voreilig für erledigt erklärt wird, auch tatsächlich für erledigt halten: Das ist vielleicht das bleibende Verdienst der Postmoderne. In der Offenheit für das, was angeblich historisch abgetan ist und dennoch in uns weiterarbeitet, lag und liegt heute Morandis verblüffende Modernität.
    Man muss sich das einmal vergegenwärtigen: Morandi ist 1964 gestorben; in seinem Todesjahr war er 74 Jahre alt. Jahrzehntelang hatte er miterleben müssen, wie aus allen Teilen der (westlichen) Welt immer neue Kunstmoden über ihn hinwegrollten: zum Beispiel die Fluxus-Welle, das Happening, das Informel, das Objet trouvé, das action painting, die minimal art, die Pop-Art, die Op-Art – und noch zwei Dutzend andere. Und immer wieder tauchten neue mediale Großsprecher auf, die sagten, was Kunst heute sei. Giorgio Morandi saß derweil in seinem winzigen Atelier in der Via Fondazza in Bologna und arbeitete an seinem total unzeitgemäßen Projekt, am Mysterium des Stillebens, das heißt am Ausdruck einer Kunst, die dem Mysterium des Lebens selbst gewachsen sein sollte. Es gelang ihm das einzigartige Kunststück, mit der örtlich gebundenen Identität eines Künstlers des 19. Jahrhunderts ein Werk des 20. (und 21.) Jahrhunderts hervorzubringen. Das ist unglaublich und löst heute Erstaunen, Bewunderung und Erregung aus.
    Haben wir nicht immer wieder das Gefühl, dass wir die Dinge, die uns nahe sind, eines Tages nicht oft genug angesehen haben werden? Wir schauen immer wieder hin, und doch wächst die innere Gewissheit, dass wir die Anblicke nicht ausreichend genug in unserem Gemüt verankern können. Wir sind nicht verbindlich genug auf der Welt. Die mangelhaften optischen Fähigkeiten unseres Auges machen uns darauf aufmerksam, dass unser Dasein ein flüchtiges ist. Die Dinge haben die größere Ausdauer, sie werden älter als wir. Anders gesagt: Es vergeht nicht die Zeit der Dinge, es vergeht immer nur die Zeit des Betrachters der Dinge. Deswegen wissen wir auch nicht genau, ob Morandis Kunst der Darstellung von Wirklichkeit (Kannen,

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