Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
sich an, bewegte Arme und Beine und blinzelte, während seine Gedanken die ganze Zeit einfach nur reglos verharrten, wie in einer Warteschleife der großen Vermittlung des Lebens. Sie gingen nicht über das Unmittelbare und das Praktische hinaus: Es wurde dunkel, und er machte das Licht an, die Milch kam, und er holte sie herein, er hatte Durst und trank Wasser. Wenn er, was selten vorkam, Hunger hatte, aß er. Es dauerte fast zwei Monate, um alles aufzubrauchen, was im Gefrierschrank und in der Speisekammer war oder von Mrs Paddon auf seiner Türschwelle hinterlassen worden war. Sein ohnehin schon schlaksiger Körper wurde ausgemergelt, die Gürtellöcher gingen ihm aus. Dosentomaten auf Kidneybohnen kündigten schließlich das Ende der Lebensmittelvorräte und den Beginn einer Hungersnot an. Es sei denn, Jonas ging einkaufen. Es dauerte drei Tage, bis er sich dazu durchgerungen hatte und ins Dorf stapfte.
Er beschränkte sich aufs Allernötigste. Aufs reine Überleben. Er sprach kaum. Alle paar Tage beantwortete er Mrs Paddons nachbarliche Anfragen mit einem gemurmelten »Gut, danke« und ging dann sofort ins Haus. Einmal die Woche wurde er eine Stunde lang von der Psychologin bearbeitet und schaffte es, ihr so gut wie nichts zu erzählen. Der einzige Grund, warum er zu den Therapiesitzungen nach Bristol fuhr, war, dass er für diensttauglich befunden werden musste, ehe er wieder arbeiten konnte. Und der einzige Grund, warum er vorhatte, wieder zu arbeiten, war, dass er absolut keine Ahnung hatte, was er sonst mit dem Rest seines Lebens anstellen sollte.
Kate Gulliver, die Psychologin, schien ganz in Ordnung zu sein, doch er traute ihr nicht. Es war nichts Persönliches – Jonas traute niemandem mehr, nicht einmal sich selbst.
Vor allem nicht sich selbst.
Gelegentlich schaute er unverwandt in den Badezimmerspiegel. Nie sah er etwas anderes als seine eigenen braunen Augen, die ihm fragend entgegenstarrten und sogar seine eigenen Erinnerungen an die Ereignisse anzweifelten. Er erinnerte sich an das Messer. Er erinnerte sich an das Blut. Er erinnerte sich daran, wie das eine zum anderen geführt hatte. Zumindest glaubte er, sich zu erinnern. Sein Gedächtnis war schon immer unzuverlässig gewesen, und angesichts des fehlenden Grauens bei diesen Bildern fragte er sich, ob das alles wirklich so passiert war oder ob es einfach bloß alles war, was sein Verstand im Augenblick bewältigen konnte. Vielleicht würden die Lücken sich später schließen, wenn er besser mit einer anderen Wahrheit umgehen konnte.
Hoffentlich nicht.
Für Jonas war es schon genug Wahrheit, dass er jedes Mal, wenn er in ihrem winzigen Cottage die Treppe hinaufstieg, über die Steinplatten hinter der Haustür gehen musste, wo Lucy gestorben war – und wo es ihm beinahe gelungen wäre, ihr zu folgen.
Manchmal ging er zum Pinkeln in den Garten und schlief auf dem Sofa.
Die Wahrheit wurde überschätzt.
Kate – die Jonas drängte, sie so zu nennen – redete von Trauerstadien und wollte, dass er seine Gefühle erforschte. Jonas hielt das für keine gute Idee. Er wusste, dass seine Gefühle irgendwo dort drinnen waren, auf dem obersten Regalbrett im Kleiderschrank seiner Psyche, doch es widerstrebte ihm, den Hocker zu holen, um an sie heranreichen zu können.
Er hatte Angst davor, was er dort finden würde.
Verdrängung, Zorn, Suche nach einem Schuldigen, Depression und Akzeptieren. Inzwischen kannte Jonas die Trauerphasen auswendig. Er konnte sie rückwärts aufsagen. Er konnte damit jonglieren wie mit Tellern. Das hieß nicht, dass er wusste, wie sie sich anfühlten .
Also hatte er stattdessen sein Bestes getan, im Laufe der acht Monate, in denen sie sporadisch miteinander zu tun gehabt hatten, die passenden Emotionen an den Tag zu legen, in den Zeitabständen, die er für angemessen hielt.
»Haben Sie jemals Schuldgefühle?«, fragte Kate.
»Natürlich«, antwortete er dann. »Ich hätte schneller dort sein sollen. Rechtzeitig. Um es zu verhindern.«
Dann nickte sie ernst, und er schaute auf seine Hände.
Drei Sitzungen verbrachte er in völligem Schweigen, starrte dumpf auf den billigen Teppich in ihrem Therapiezimmer, während sie mit großen Pausen behutsame Fragen stellte. Das würde als Depression aufgefasst werden, dachte er sich.
Bald würde er die Energie aufbringen müssen, sich an Zorn zu versuchen. Er schob es immer wieder hinaus.
In gewisser Weise hoffte er, dass das Vortäuschen von Gefühlen auf magische Weise die
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