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Ihr schafft mich

Ihr schafft mich

Titel: Ihr schafft mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolaus Nuetzel
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Gesetzbücher, aber bei Weitem nicht so viele wie heute. Warum also die Gesetzesflut?
    Stellen wir uns vor, wir steigen in eine Zeitmaschine und reisen in das Jahr 1400. Wir landen in einer mittelgroßen Stadt in der Gegend, wo heute Deutschland ist. Die Mehrheit der Einwohner dieser Stadt sind Christen. Es gibt in dieser Stadt des Jahres 1400 auch einige Juden. Sie müssen in einer eigenen Gasse leben, der Judengasse. Das ist klar geregelt. Auch unter den Christen gibt es Regeln, wer wie und wo lebt. Die verschiedenen Handwerker sind in verschiedenen Straßenzügen angesiedelt. Es gibt eine Gerbergasse ebenso wie eine Schmiedgasse, in denen die jeweiligen Handwerker ihrer Arbeit nachgehen. In ihren Häusern ist unten die Werkstatt, oben die Wohnung.
    Die Leute aus dem Jahr 1400, denen man bei so einer Zeitreise begegnen würde, haben keine großen Zweifel, in welchen Bahnen ihr Leben verläuft. Sie wissen, was für ein Beruf für sie infrage kommt und welcher nicht. Sie wissen, wo sie in zehn oder zwanzig Jahren leben werden, wo sie beerdigt werden. Sie wissen, wer und was ihnen im Alltag begegnet. Mal Leute aus anderen Handwerkerfamilien, mal Bauern, die in die Stadt kommen, mal der Pfarrer in der Kirche. Dass man laufend neue Entscheidungen treffen muss, dass man sich mit Fremden auseinandersetzen muss oder mit anderen Lebensentwürfen – das gehört zum Leben dieser Menschen des Jahres 1400 nicht dazu. Deswegen kommen sie mit wenigen Regeln und Gesetzen aus. Es ist ja sowieso klar, wie das Leben verläuft. Da muss nicht so viel geregelt werden.
    Vielfalt macht Gesetzesbücher dick.
    Wenn wir hingegen keine Zeitmaschine nehmen, sondern einfach in der Gegenwart einen Wohnblock im Zentrum einer modernen europäischen Stadt aufsuchen, was könnten wir finden? Im Erdgeschoss mag vielleicht – noch ganz wie in der mittelalterlichen Stadt – ein Handwerker seine Werkstatt haben. Ein Goldschmied möglicherweise. Vielleicht ist er Christ und geht sogar in die Kirche. Nebenan könnte aber eine Frau ein Nagelstudio betreiben, die mit Kirche gar nichts am Hut hat. Im ersten Stock wiederum lebt eine streng gläubige Moslemfamilie, die ihre Wurzeln in Afrika hat – was man auch an der schwarzen Hautfarbe dieser Familie sieht. Im zweiten Stock lebt ein schwules Studentenpaar, von denen der eine an gar nichts glaubt, der andere hat sich während eines Jahres, in dem er in Thailand lebte, eine Mischung aus Buddhismus und Esoterik als Glaubensrichtung zugelegt. Wer in dieses Haus einzieht, muss sich mit ungleich mehr verschiedenen Lebensweisen auseinandersetzen als jeder Bewohner einer mittelalterlichen Stadt.
    Es hat also seinen Grund, dass es in Deutschland Tausende und Abertausende von Gesetzen und Vorschriften gibt. In einem Land, in dem die Zahl der möglichen Lebenswege gering ist und in dem alle zu tun haben, was der König oder womöglich ein Diktator sagt, braucht man zwar sicher auch ein paar Gesetzbücher. Aber die können vergleichsweise dünn ausfallen. Eine Gesellschaft, in der man entweder zu Fuß geht oder mit dem Pferd unterwegs ist, braucht keine Vorschriften über Start- und Landerechte von Flugzeugen, keine Bestimmungen über die Rechte von Bahn-Fahrgästen bei Verspätungen. Eine Gesellschaft, die keine Computer kennt, braucht keine Regeln über Persönlichkeitsschutz oder Urheberrecht im Internet. Eine Gesellschaft, die keine Atomkraftwerke hat, braucht nicht das – auch oben im Kasten erwähnte – Übereinkommen über zusätzliche Entschädigungsleistungen für nuklearen Schaden.
    Die Menschen sind verschieden. Und in Ländern wie Deutschland, Frankreich oder den USA pochen sie heute darauf, verschieden sein zu dürfen. Also müssen die Regeln eines modernen, demokratischen Staates der piercing-begeisterten 21-Jährigen, die sich mit einem Sex-Shop selbstständig macht, ebenso gerecht werden wie der streng katholischen 61-Jährigen, die fast ohnmächtig wird, wenn sie an diesem Laden vorbeigeht. Die Regeln müssen dem (jungen oder alten) Nerd , der in seiner Wohnung möglichst nichts von anderen Leuten mitbekommen möchte, ebenso gerecht werden wie seinem Nachbarn, der fast jeden Abend in Partylaune ist. Sie müssen dem Unternehmer, der so schnell wie möglich so viel wie möglich verdienen möchte, ebenso gerecht werden wie den Leuten, die für diesen Unternehmer arbeiten.

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