Ihr stolzer Sklave
seinen eigenen Leuten umher und wäre unfähig, ihnen zu helfen. Es herrschte eine Atmosphäre des Chaos, und es fehlte eine Führung. Keiner gab Befehle, keiner traf eine Entscheidung, was jetzt zu tun war. Frauen und Kinder sprachen mit leiser Stimme, jeder wartete darauf, dass ein anderer das Kommando übernahm.
Es war anmaßend, sich solch eine Rolle anzueignen, aber Kieran wusste, was als Erstes zu geschehen hatte. Wenn er erst einmal zu handeln anfing, dann würden die anderen ihm vielleicht folgen.
Ohne ein Wort zu sagen, entdeckte er einen Grabstock, der an einer Hütte nahe einem Garten lehnte. Nachdem er einen Platz ausgesucht hatte, fing er an, ein flaches Grab auszuheben. Das stumpfe hölzerne Werkzeug biss sich in die feuchte Erde, und während sich die Erdbrocken aufhäuften, stellte er fest, dass er sich wieder an die Namen der Stammesmitglieder erinnerte, die sie verloren hatten.
Declan. Séan. Siobhan.
Einige waren an Hunger gestorben, andere durch Plünderer, die sie getötet hatten. Die einfache Arbeit, ein Grab zu schaufeln, brachte den Kummer zutage, den er so lange verdrängt hatte. Er hackte auf die Erde ein und ließ seiner Wut freien Lauf. Er lebte, während seine engsten Freunde gestorben waren. Und Egan.
Die Menschen sahen ihm schweigend zu, bevor eine junge Frau sich mit ihrem Grabstock zu ihm gesellte. Eine ältere Frau und ein Kind, kaum älter als acht Jahre, folgten. Zusammen gingen sie ans Werk, die Toten zu beerdigen. Kieran hielt den Kopf gesenkt, sodass ihm die Menschen nicht ins Gesicht sehen konnten. Er stürzte sich auf die grausame Arbeit. Sie verschaffte ihm auf eine Art Erleichterung, wie nichts anderes sie ihm hätte verschaffen können.
Als die letzte Schaufel Erde den letzten Toten bedeckte, waren seine Hände voller Blasen, und in seinem Kopf herrschte eine gesegnete Leere.
Die Sonne war schon Stunden zuvor untergegangen, und sie hatten zum Schluss nur noch bei Fackelschein gearbeitet.
Er stützte sich auf seinen Spaten und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
„Du musst durstig sein“, sagte die ältere Frau und bot ihm einen tropfenden Trinkschlauch an. „Ich bin Rosaleen Murphy. Wer bist du, Junge, und wer schickte dich?“
„Ich bin Kieran Ó Brannon.“ Er nahm einen tiefen Schluck Wasser, und es machte ihm nichts aus, dass es schal schmeckte. Danach gab er Rosaleen den Schlauch zurück. Einen Augenblick lang hätte er sich fast als einen Sklaven
zu
erkennen
gegeben. Aber
er
hatte seine
Freiheit
zurückgewonnen. Er dachte nun daran, zu erzählen, er sei ein Holzschnitzer. Doch am Ende blieb er bei der Wahrheit.
„Ich bin der Sohn eines Stammesführers, und ich bin ein Krieger“, sagte er. Sie nickte anerkennend mit dem Kopf, und er fuhr fort: „Ich bin auf der Suche nach Aidan MacFergus hierhergekommen. Seine Mutter Iseult suchte ihn das vergangene Jahr über, und ich bin in ihrem Auftrag hier. Ich glaube, er wurde hier bei euch in Pflege gegeben.“ Obwohl er das Kind nicht gesehen hatte, so war er der Familie bis hierher gefolgt. Seit seinem Abschied von Iseult waren fast zwei Monde vergangen.
Jeden Tag dachte er an sie, und er musste sie wiedersehen. Aber nicht, bevor er Aidan gefunden hatte.
Rosaleen bekreuzigte sich. „Allen Heiligen sei Dank, dass du gekommen bist. Die Pflegeeltern von Aidan sind tot. Sie flüchteten beim Herannahen der Plünderer, aber sie überlebten den Angriff nicht.“ Die Frau neigte respektvoll den Kopf. „Sie waren unter jenen, die wir gerade beerdigt haben.“
Kierans Gesicht zeigte keine Regung, aber sein Herz hämmerte zum Zerspringen. „Geht es dem Jungen gut?“
„Ich führe dich zu ihm“, erbot sich Rosaleen. „Aidan und seine Pflegeschwester brauchen jemanden, der sich um sie kümmert.“ Er folgte ihr zu einer der Steinhütten. Das Dach war abgebrannt. Um etwas Schutz zu haben, hatte man über einen Teil der Hütte eine Leinwand gelegt. Im Innern waren mindestens zehn Kinder, vom Baby bis zu jenen, die fast erwachsen waren. Zu hören war das Jammern der jüngeren Kinder, die etwas zu essen verlangten.
„Aidan“, rief Rosaleen. „Komm her, mein Schatz. Und du, Shannon.
Dieser Mann ist gekommen, um sich um euch zu kümmern.“ Um beide? Fast hätte Kieran widersprochen, aber ein kleines Mädchen von vielleicht acht Jahren trat vor. An der Hand hielt es einen schwarzhaarigen Jungen. Aidan. Iseults Sohn.
Kieran
Weitere Kostenlose Bücher