Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Vollernter von den Reben gerissen hatten, nur bräunlich roten Lehm, der nasser war, als er eigentlich sein durfte, da es schon vor Stunden zu regnen aufgehört hatte. Dann bemerkte er ein Stück Stoff wie von einer Bluse– rot getränkt. Schließlich erkannte er ein weiteres Detail dessen, was er da gerade mit dem riesigen Reifen seiner tonnenschweren Maschine überfahren hatte…
…und musste ohne jede Vorwarnung kotzen.
2
Was für ein Unterschied zu Hamburg, dachte Oberstaatsanwältin Inga Jäger, während sie ihren dunkelblauen und noch ganz neu riechenden Dienst-Mercedes durch die engen Gassen Eltvilles lenkte und darauf wartete, dass das Navigationssystem sie endlich aufforderte, nach rechts abzubiegen. Sie hatte als Zielort die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Eichberg eingegeben, weil der südlich darunter liegende Eichberg als Weinlage und Waldstück nicht im Angebot des Navis vorhanden war. Ihren vorab gegoogelten Informationen zufolge lag die Klinik nur einige Meter oberhalb des Leichenfundorts, und den wollte sie sich ansehen, bevor die Kollegen vom LKA und der Spurensicherung und unzählige Schaulustige dort auftauchten und alles zertrampelten.
Es war ihr erster Fall für die Staatsanwaltschaft Wiesbaden, obgleich es eigentlich noch nicht einmal sicher war, dass es sich dabei überhaupt um einen Fall handelte.
Nach allem, was sie gehört hatte, hatte der Traubenvollernter eine gehörige Schweinerei angerichtet, und es war noch überhaupt nicht geklärt, ob es sich bei der gefundenen Leiche um das Opfer eines Mordes handelte, um eine Unfalltote oder eine Frau, die eines natürlichen Todes gestorben war. Deshalb hatte Inga Jäger die zuständigen Beamten von der Kripo anweisen lassen, das Gebiet weiträumig abzusperren und auf keinen Fall etwas anzurühren, ehe sie nicht selbst vor Ort war.
Für ihren Neuanfang hier unten in Hessen wollte sie nicht weniger als einen absolut korrekten Start und dabei auf keinen Fall riskieren, sich den von vielleicht unfähigen Kollegen ruinieren zu lassen. Man bekommt schließlich nicht oft im Leben eine zweite Chance. Inga Jäger hatte sie bekommen, sie hatte sie sich sogar hart erkämpft, und sie war fest entschlossen, sie mit beiden Händen zu ergreifen und nach allen Kräften zu nutzen.
Als die Anweisung des Navigationssystems endlich mit elektronisch blecherner Stimme kam, folgte sie ihr nach rechts den ansteigenden Berg hinauf und hatte die kleine Stadt schon schnell hinter sich gelassen.
Weinberge, wohin immer sie blickte– und überall waren Lesemaschinen im Einsatz; große Monster aus gelb, rot oder blau lackiertem Stahl, die aussahen wie Killermaschinen von einem anderen Planeten bei der Invasion des Rheingaus. Weiter oben im Norden sah sie die Ausläufer des Taunuswaldes, und im Rückspiegel konnte sie jetzt über Eltville hinweg den Rhein in seinem Bett hinter ihr erkennen. Der Anblick erinnerte sie an die Elbe, und sie fühlte, wie es ihr für einen Moment lang das Herz zuschnürte. Sich über sich selbst ärgernd runzelte sie unwillig die Stirn und schüttelte den Gedanken ab.
Wenn sie wirklich neu anfangen und durchstarten wollte, musste sie sich voll und ganz nur auf das vor ihr Liegende konzentrieren und sich um keinen Preis von Vergangenem ablenken lassen– und das in jeder Hinsicht.
Schon nach wenigen weiteren Minuten hatte sie den Waldrand erreicht und folgte der schmalen, durch die Weinlese mit Lehmklumpen und Laub verdreckten Straße, die nach links führte, parallel zum unten im Tal liegenden Fluss. Eine lang gezogene Kurve später machte sie vor sich den Fundort der Leicheaus: ein Vollernter, zwei Streifenwagen, ein Zivilfahrzeug der Kripo und zwei Transporter– einer von der Spurensicherung, der zweite von der Rechtsmedizin… in den zwei Beamte gerade einen seltsam unförmigen Leichensack hievten.
Verdammt!, fluchte Inga Jäger innerlich und schlug mit der flachen Hand zornig aufs Lenkrad. Sie hatte doch ausdrücklich die Anweisung erteilt, nichts anzufassen oder zu bewegen, ehe sie hier war– schon gar nicht die Leiche. Nichts an dieser Anordnung war missverständlich oder frei interpretierbar. Wer auch immer hier verantwortlich zeichnete, hatte sie ignoriert und sich darüber hinweggesetzt.
Mit gehöriger Wut im ohnehin schon nervösen Bauch steuerte sie den Wagen an den Wegrand, stieg aus und eilte auf die Gruppe zu.
» Stopp!«, rief sie energisch.
Aber niemand hielt in dem, was er oder sie gerade tat, inne.
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