Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
zitternden, blutverschmierten Lippen gebracht hatte. Deshalb, wie um das Unvermeidliche zu vermeiden und in vollem Bewusstsein der Absurdität dieser Sehnsucht, las sie so langsam, wie sie nur konnte.
» Schneller!«, brüllte der Mann.
» I-ich kann nicht…«, stieß sie unter Schluchzen hervor und wollte den Erbarmen heischenden Blick hin zu ihm wenden, damit er die Wahrheit ihrer Worte, ihre nackte Angst sehen konnte und das verzweifelte Bekenntnis, alles, alles, alles zu tun, was er wollte, wenn er sie danach nur leben und nach Hause gehen lassen würde, in ihren Augen lesen konnte.
Doch ehe sie das tun konnte, schoss er ganz dicht bei ihrem Kopf in die Luft, und ihr linkes Trommelfell platzte. Sie schrie auf vor Schmerz, und er drückte ihr die von dem Schuss heiße Mündung gegen die Wange. Sie hörte das feuchte Zischen und roch ihr eigenes angesengtes Fleisch.
» Los jetzt! Es ist nur noch ein einziger Name!«, schrie er. » Und es ist der, der wirklich zählt. Also lies ihn laut und deutlich und erweise ihm gefälligst den Respekt, der ihm gebührt. Denn nur dann töte ich dich schnell statt langsam und qualvoll, wie du und die deinen es eigentlich verdient hätten.«
Sieglinde Reichard hatte absolut keine Ahnung, wovon er sprach, nicht die blasseste, doch sie hatte furchtbare Angst davor, noch weiter gequält zu werden. Deshalb und in der dünnen Hoffnung, dass sie danach vielleicht doch aus diesem Traum hochschrecken würde, las sie die beiden Worte, den letzten Namen, so laut und so deutlich, wie sie mit ihrem geschwollenen Kiefer konnte.
Nachdem das geschehen war, nahm er ihr den zerknitterten Zettel aus der zitternden Hand und stellte sich hinter sie.
» Und wie es geschrieben steht im dritten Buche Mose, Kapitel 24, die Verse 19 und 20«, intonierte er feierlich: » Wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, ganz so wie er getan hat: Schaden für Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn!«
Der einsame Schuss hallte durch die Weinberge und die Stille, die darüber lag, und Sieglinde Reichard kippte vornüber in den Matsch. Ihre blauen Augen waren überrascht geweitet und brachen binnen Sekunden, während Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse vom Regen weggespült wurden.
Sie spürte nicht mehr, dass ihr Mörder sie herumdrehte, ihr die schlammverdreckte Bluse aufriss und ihr mit einem sechzehn Zoll langen Hirschfänger den Brustkorb aufbrach, um ihr anschließend das Herz herauszuschneiden. Zum Reißen waren die Arterien zu zäh.
Was in ihren Beinen, Fingern und Lippen noch zuckte, waren nur die Nerven.
So sagt man zumindest.
Sieglinde
1
Die Weinberge über Eltville am Rhein.
Sechs Uhr dreißig morgens. Hoch oben im Herbstwind über den Dämmerhimmel jagende Wolken. Die Luft feucht und kalt. Die Sonne klebte noch müde am nebligen Horizont, und über drei Dutzend Krähen zogen aufgebracht schreiend ihre niedrigen Kreise über den Wingertszeilen.
Ungewöhnlich viele Krähen, dachte Claus-Josef Frohmann und quälte den vier Tonnen schweren Traubenvollernter unter dieseligem Röhren den steilen Hang des Eichbergs hinauf. Vier Jahre lebenszeitfressendes Studium im Fachbereich Weinbau und Kellerwirtschaft an der Fachhochschule Geisenheim hatte er hinter sich und einen Abschluss als Diplom-Ingenieur, und in seinem jugendlichen Enthusiasmus war er sich damals sicher gewesen, im Alter von fünfunddreißig sein eigenes, großes und international bekanntes Weingut zu besitzen und neue, einzigartige und hoch prämierte Riesling-Weine zu kreieren, die auf der Welt vergeblich ihresgleichen suchten. Doch die wirtschaftliche Lage hatte sich alles andere als zum Besten entwickelt, und dann waren im Vereinigten Europa die Zölle für Spitzenweine aus Frankreich, Italien und Spanien weggefallen, die jetzt zu Niedrigpreisen in jedem Supermarktregal zu finden waren. So hatte es Frohmann dann doch nicht weiter geschafft als bis zum Feldarbeiter und Maschinenführer bei den Hessischen Staatsweingütern in Eltville am Rhein. Sicher, er konnte noch froh sein, überhaupt einen Job zu haben, aber niemand konnte ihn dazu zwingen, den auch noch zu lieben oder gar stolz darauf zu sein.
Träume platzen nicht– sie werden zerfetzt und in Stücke gerissen… und es bleibt immer gerade so viel von ihnen übrig, dass man ihren gallebitteren Geschmack ein Leben lang auf der Zunge hat.
Als Claus-Josef Frohmann jung war, hatte man die Weintrauben noch mit den Händen geerntet. Wie all die Jahrhunderte zuvor. Zwanzig
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