Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
ein Kontrollfreak und betrachte das im Gegensatz zu den meisten meiner Zeitgenossen nicht als Charakterschwäche.«
» Wenn Sie mich dabei nicht stören…«
» Ich habe Sie ausreden lassen, also lassen Sie mich ebenfalls ausreden. Gleiches Recht für beide, oder?«
Er nickte.
» Zweitens: Wenn Sie, was ich sehr gut verstehen kann, vermeiden wollen, dass ich Sie noch einmal vor versammelter Mannschaft anschnauze oder in den Senkel stelle, folgen Sie in Zukunft ganz einfach meinen Anweisungen, die Sie, da stimme ich Ihnen völlig zu, von nun an nie wieder von meiner Sekretärin bekommen werden, sondern nur noch von mir persönlich. Und wenn Sie ein Problem damit haben, dass ich über einen Kopf kleiner, fünfzehn Jahre jünger und obendrein eine Frau bin, suchen Sie sich am besten jetzt gleich einen anderen Staatsanwalt, mit dem Sie zusammenarbeiten können oder wollen.«
» Drohen Sie mir etwa?«
Inga Jäger hätte es nicht für möglich gehalten, aber seine bärige Stimme war gerade noch eine ganze Oktave tiefer geworden. Kaum noch hörbar, dafür aber verdammt brummig. So brummig, dass sie ihr bis tief in den Brustkorb hinein vibrierte.
» Ich drohe Ihnen nicht, Herr Gebert, ich konfrontiere Sie lediglich mit den Fakten und nenne Ihnen klipp und klar die Ihnen zur Wahl stehenden Optionen.«
» Und drittens?«
» Drittens: Sie haben recht.«
Er zog fragend eine Augenbraue nach oben.
» Ja, haben Sie. Die Leiche eines Menschen sollte wirklich nicht länger im Dreck liegen als nötig. Ich entschuldige mich dafür.«
Etwas wie Anerkennung stahl sich in seinen kalten, durchdringenden Blick.
» Und jetzt zurück an die Arbeit«, sagte sie, drehte sich herum und schritt los in Richtung des Fundorts der Leiche. » Was wissen wir Genaues von…?«
Da rutschte sie auf einem nassen Weinblatt aus. Doch ehe sie fallen konnte, hatte Gebert sie schon reaktionsschnell mit einer seiner riesigen Hände am Oberarm gefasst und half ihr dabei, sich zu fangen, ohne dass einer der anderen sah, dass sie kurz aus dem Gleichgewicht geraten war.
» Die Leiche ist übel zugerichtet«, sagte er, als ob nichts gewesen wäre, und ließ sie los, als er merkte, dass sie wieder sicher stand. Sie gingen beide in Richtung ihres Wagens. » So ein Traubenvollernter wiegt drei bis fünf Tonnen. Kein schöner Anblick. Genaueres erfahren wir in der Forensik.«
3
Forensisches Institut Wiesbaden. Pathologie.
» Das Herz fehlt.«
Zuerst dachte Inga Jäger, sie hätte Dr. Bianca Busch, die Rechtsmedizinerin des Landeskriminalamtes Wiesbaden, falsch verstanden, und die schlaksige Frau mit dem wasserstoffblonden Bubikopf und der runden Nickelbrille musste das an ihrem Blick wohl bemerken, denn sie nickte bestätigend und sagte: » Ja, Sie haben richtig gehört: Das Herz fehlt.«
Das Forensische Institut Wiesbaden ist eines der am besten ausgerüsteten in ganz Deutschland, weil hier sowohl für das Hessische LKA als auch für das Bundeskriminalamt gearbeitet wird. Aber die Leichenhalle selbst unterschied sich nicht besonders von der, die Inga Jäger aus ihrer Zeit in Hamburg kannte: Boden und Wände weiß gefliest, eine riesige Kühlanlage mit körpergroßen Türen, Obduktionstische und Arbeitsflächen aus leicht abwischbarem und spiegelblankem Edelstahl. Kaltes, leise sirrendes Neonlicht. Abflussgitter im Boden. Glasschränke voller Materialien, Substanzen und Werkzeuge. Die Halle roch sogar ganz genau so, wie die in Hamburg gerochen hatte– nach Formaldehyd, Spiritus, Antiseptikum, Chlorreiniger… und eben toten Menschen; Blut, Eingeweiden, Schweiß, Fäkalien, Verwesungsgasen.
» War das Entfernen des Herzens die Todesursache?«, fragte Kriminalhauptkommissar Gebert.
» Das ist schwer zu sagen«, antwortete die Pathologin und spreizte den ohnehin bereits erheblich gesplitterten Brustkorb der Leiche auf dem Obduktionstisch vor ihr mit einer übergroßen Rippenschere und nicht unerheblicher Kraftanstrengung noch um einige Zentimeter weiter.
Inga Jäger musste sich zwingen, nicht wegzusehen. Aber auch wegsehen hätte ihr nicht dabei geholfen, das langgezogene schmatzende Krachen auszublenden. Sie fühlte, wie sie würgen musste, bekam sich aber gerade noch rechtzeitig wieder unter Kontrolle.
» Der Vollernter hat wirklich ganze Arbeit geleistet«, fuhr Dr. Busch fort, und Inga Jäger konnte Mitgefühl in ihrer Stimme hören. » Hier ist kaum noch ein Knochen oder Muskel, wo er ursprünglich hingehört; ganz zu schweigen von den inneren
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