Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
wegzuschließen. Dann erst ließ er sie durch die dreifach gesicherte Schleuse ins Innere des Gebäudes.
Am Ende des Tunnels wurden sie von einem ebenso leer dreinblickenden Wärter in Empfang genommen. Der Mann war untersetzt und hatte schütteres Haar. Seine mangelhaft gepflegte Uniform wies etliche kleine Schadstellen an den Nähten auf.
» Sie wollen zu Thomas Eser«, sagte er. Sie hatten sich vorher angekündigt. » Ungewohnt.«
» Inwiefern?«, fragte Inga Jäger interessiert.
Der Wärter zuckte die Achseln. » Der hatte bestimmt schon seit zehn Jahren keinen Besuch mehr.«
Inga Jäger kannte das Phänomen. Verurteilte Mörder verloren in der Regel schon nach etwa zwei Jahren nahezu jeglichen Kontakt zur Außenwelt. Ehemalige Freunde, selbst solche, die am Anfang noch von der Unschuld des Delinquenten überzeugt waren, lösten sich nach vielleicht zwei oder drei Besuchen als erste in Luft auf, und auch die weitere Verwandtschaft distanzierte sich recht früh… bis nur noch der kleine Kreis der engen Familie übrig blieb.
Meistens war es am Ende dann nur noch einer, der hin und wieder kam– ein Bruder (Schwestern ganz selten), die Ehefrau (die sich meistens zügig scheiden ließ); vorausgesetzt natürlich, sie war nicht, wie im Falle Thomas Eser, das Mordopfer, der Vater (der sich selbst für die Tat des Sohnes verantwortlich hielt, bis er dessen Anblick vor lauter schlechtem Gewissen nicht mehr ertragen konnte und sich aus dem Staub machte oder sich das Leben nahm) oder die Mutter (aber in den meisten Fällen auch nur die, die sich vormachen konnten, dass Leiden adelt).
Der Mensch ist nicht geschaffen dafür, die Gegenwart eines anderen zu ertragen, von dem er weiß, dass der jemanden aus niederen Motiven heraus getötet hat. Bei Notwehrtätern oder Soldaten ist das etwas ganz anderes. Nicht aber bei Mördern.
Aus den Akten wusste Inga Jäger, dass beide Elternteile von Thomas Eser schon vor langem gestorben waren.
» Bitte folgen Sie mir«, sagte der Wärter und ging den kalt beleuchteten Flur entlang. » Eser wartet in einem der Besucherzimmer auf Sie.«
26
Justizvollzugsanstalt Wiesbaden. Einzelbesuchszimmer.
Das Besucherzimmer war so kalt und abweisend wie der Rest des Gefängnisses. Thomas Eser saß in Hand- und Fußfesseln an der der Tür gegenüberliegenden Seite des im Boden verankerten Tisches.
Er war Mitte fünfzig, so glatzköpfig wie Kommissar Gebert, aber höchstens einmal halb so schwer. Wo Gebert grobschlächtig war und massiv, war Eser sehnig und drahtig. Sein Gesicht war hager und glich schon beinahe einem Totenschädel. Außer an Händen und Armen war er auch dort tätowiert. Eine Träne unter dem linken Auge, ein kleines, von Rosen umranktes Kreuz auf der Stirn und zwischen rechter Schläfe, Ohr und Jochbein ein Fünferbündel Striche– wie Inga Jäger wusste, ein Symbol für die Anzahl von Knastkämpfen, aus denen er siegreich hervorgegangen war.
Das waren keine kleinen Rangeleien um den besseren Platz in der Schlange zur Essensausgabe oder im Fernsehzimmer. Solche Striche gab es traditionell nur bei echten Revier- und Rangkämpfen… Kämpfen, die fast ausnahmslos tödlich endeten oder den Verlierer für den Rest seines Lebens so schwer verkrüppelt zurückließen, dass er für niemanden mehr eine Gefahr darstellte.
Esers Blick war kalt und lauernd, und zugleich fühlte Inga Jäger sich von seinen hellgrünen Augen ausgezogen und betatscht.
Sie kannte diese Blicke– und konnte damit leben… das war bei Besuchen in einer Justizvollzugsanstalt nun einmal so. Da war aber außerdem eine fast schon physisch spürbare Anspannung in Esers kampfgestähltem Körper, die Inga Jäger bisher selten erlebt hatte. So als sei er bereit, seine Fantasien keine bleiben zu lassen und sie direkt in die Tat umzusetzen.
Sie war froh, dass er angekettet war.
» Guten Tag, Herr Eser«, sagte sie dennoch höflich.
Gebert nickte nur.
» Zieh dich aus, Schnecke, und wir kommen ganz sicher ins Geschäft, wir zwei«, sagte Eser unvermittelt mit einem süffisanten Grinsen auf den schmalen Lippen. Seine Stimme war kratzig und zynisch. » Ganz egal, was du von mir willst.«
Gebert baute sich sofort schützend neben ihr auf. » Hör zu, Mann. Wenn du nicht noch mehr Stress haben willst, als du ohnehin schon hast, passt du besser auf, was du sagst.«
» Schau an, schau an, wer hier einen auf den dicken Max macht.« Eser lachte verächtlich. » Noch mehr Stress, Bulle? Was wollt ihr mir denn noch
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