Ihr Wille Geschehe: Mitchell& Markbys Zehnter Fall
Ihre beiden Besucher waren schlagartig nüchtern und starrten sie in schockiertem Schweigen an.
»Das Leichenschauhaus, wie wir es nennen«, erklärte Wynne lachend, »ist die Seite mit den Todesanzeigen. Die Zeitung archiviert die Lebensläufe der Prominenten und Wichtigen, um sie jederzeit in Druck zu geben, falls einer von ihnen ins Gras beißt. Seit ich in den Ruhestand gegangen bin, habe ich eine ganze Menge Biografien verfasst – es gibt ständig irgendwelche neuen Berühmtheiten, über die es Nachforschungen anzustellen gilt. Außerdem habe ich eine Reihe von bereits existierenden Biografien auf den aktuellen Stand gebracht. Es ist unglaublich interessant, und man muss schrecklich diskret zu Werke gehen. Der oder die Betreffende darf nicht ahnen, was man tut.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Markby.
»Würde mich auch ziemlich runterziehen, wenn ich denke, dass irgendein Geier – Verzeihung, Wynne –, irgendein Schreiber an meinem Nachruf sitzt, obwohl ich noch ganz gesund und munter bin. Das würde jeden in Depressionen stürzen.«
»O nein, das ist es nicht!«, widersprach Wynne aufgeregt.
»Ganz im Gegenteil! Es macht ihnen nicht das Geringste aus! Sie sind erfreut und fasziniert, und sie würden alles dafür geben zu erfahren, was man über sie geschrieben hat – aber sie dürfen es nicht sehen. Also ist es am besten, wenn sie erst gar nichts von seiner Existenz ahnen. Wenn sie es erst herausgefunden haben, bieten sie einem die unglaublichsten Dinge, nur um einen Blick hineinwerfen zu dürfen.«
»Ich verstehe, dass es Spaß macht, auf eine gewisse Weise«, sagte Meredith vom Fenster her. Der nachdenkliche Blick kehrte in Wynnes Gesicht zurück.
»Ja. Ich habe es genossen. Das heißt …« Sie machte sich am Korken der Weinflasche zu schaffen.
»Das heißt, bis die Sache mit Olivia Smeatons Pferd passiert ist.« Meredith stellte ihr Glas ab und drehte sich auf der Fensterbank so, dass sie ins Zimmer sah. Sie ignorierte Alans panische Signale, nicht auf diesen offensichtlichen Köder einzugehen, und fragte unschuldig:
»Wieso? Was hat es denn getan?«
»Getan? Oh …« Wynne lächelte vage, doch Markby hätte schwören können, ein triumphierendes Glitzern in ihren Augen zu entdecken. Sie hatte Meredith und ihn am Haken, und sie wusste es.
»Getan hat es überhaupt nichts, das arme Tier. Es ist gestorben, weiter nichts.« Es war an der Zeit, zu gehen oder die Sache bis zum Ende durchzustehen. Jetzt oder nie. Markby unternahm eine letzte verzweifelte Anstrengung, vom Thema in all seiner Ernsthaftigkeit abzulenken.
»Wollen Sie uns erzählen, Sie hätten einen Nachruf auf ein Pferd geschrieben, Wynne?«
»Nein, für die arme Olivia, die nur wenige Tage später gestorben ist. Sie haben das Pony freitags begraben, und Olivia wurde am folgenden Montagmorgen tot aufgefunden. Ich hab direkt bei der Redaktion angerufen und Bescheid gegeben. Ich war bereits beauftragt worden, den Nachruf zu ergänzen und zu korrigieren. Ganz im Stillen, angesichts ihres fortgeschrittenen Alters. Trotzdem hat niemand damit gerechnet, dass sie so plötzlich und auf diese Art und Weise sterben könnte! Ich erzähle die Geschichte nicht besonders gut, nicht wahr?« Wynnes Entschuldigung ermangelte es an Ernsthaftigkeit; sie lächelte verschmitzt, während sie weiterredete.
»Vielleicht sollte ich lieber von Anfang an erzählen.«
»Es ist schon ziemlich spät«, sagte Markby mit einem verzweifelten Blick auf seine Armbanduhr. Meredith glitt von der Fensterbank und kam zu ihm. Sie setzte sich neben ihm auf den Boden, zog die Knie an die Brust und schlang die Arme um die Schienbeine.
»O ja, bitte!«, bettelte sie die unübersehbar dankbare Wynne an.
»Erzählen Sie uns die Geschichte von Anfang an. Erzählen Sie uns alles!« Markby unterdrückte ein Stöhnen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Draußen wurde es dunkel. Wynne streckte die Hand nach dem Schalter einer Tischlampe aus. Es würde eine lange Nacht werden, eine Nacht voller Geschichten. Der Raum füllte sich mit den Geistern aus der Erinnerung Wynnes. Und dabei war noch lange nicht Weihnachten.
»Letzten Januar bekam ich einen Anruf von der Zeitung«, begann Wynne.
»Jemand, der für die Unterlagen des Leichenschauhauses verantwortlich war, hatte einen Eintrag über Olivia gefunden. Erkundigungen zufolge lebte sie hier am Rand dieses Dorfes, in Rookery House. Damit war ich die ideale Besetzung für die Ergänzung ihrer biografischen Daten.
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