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Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Véronique Olmi
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als sie auf der Schwelle stand, entwischte ihr Lachen, das sie sogleich unter der behandschuhten Hand versteckte, durch den Gang der aneinandergereihten, zusammengedrängten, geschlossenen Türen, die ihr Schweigen auferlegten, die Do not disturb schaukelten traurig, sie ließ sie hinter sich. Disturb! Do disturb me! Das wollte sie, das konnte sie, und auf das Lachen folgte ein unterdrücktes Schluchzen, eine Regung der Ungeduld, sie stand in diesem toten Gang, sie würde gehen, ohne sich umzudrehen, und sie sah die Türen an, wie man ein altes Foto ansieht, erstarrte Zeit, das war schon so fern, versunken in ewiger Nacht, in hundertjährigem Schlaf … Wer kommt euch küssen? Wer wird euch mit einem Kuss aufwecken, euch, in eurer Einsamkeit, in euren Alpträumen, eurer Melancholie?
    Die stummen Türen. In Habachtstellung. Do not disturb. Do not disturb, bis in alle Ewigkeit.
    Und plötzlich hatte sie kein Mitleid mehr. Ihr Herz war trocken genug, um ohne weitere Rührung, ohne das geringste Bedauern fortzugehen. Sie hob kaum die Hand, um sie zu grüßen, als sie ihnen den Rücken zuwandte und zur Treppe ging, die in die Hotelhalle führte.
     
    Sie wusste nicht, wer geschossen hatte. Sie wusste nicht, von wo man geschossen hatte, aber dieser Schuss war ein Ruf gewesen, ein göttlicher Befehl, dem sie sich nicht entziehen konnte, und die Eingangstüren öffneten sich, um sie hinauszulassen, sie vom Zweifel zur Gewissheit, vom Zögern zur Waghalsigkeit gehen zu lassen.
    Die Türen öffneten sich, um ihr die Nacht anzubieten, die Kälte berührte kaum ihr Gesicht, ihr Körper strahlte eine neue Wärme aus, ihr Blut pulsierte kräftig, heiß, jetzt war ihr Körper im Einklang mit ihrem Geist, sie war eine harmonische Frau, etwas erstaunt über sich selbst, mitgerissen von sich selbst, das hatte sie noch nie gemacht, nie gewagt, warum hatte man ihr nicht beigebracht, dass die Nacht die bösen Geister beruhigt, die Griesgrame schlafen und die Königinnen heraustreten lässt? »Ich bin eine Königin, ja, ja, mein Schätzchen, eine wunderbare Königin!« Und warum nicht? Ich kann entscheiden, was ich will. Ich bin, was ich will, und wenn ich mich nicht liebe, wer dann? Warum auf die Liebe in den Augen der anderen lauern, wenn ich sie mir in dieser Nacht selbst geben kann, unmittelbar und großzügig? Ich liebe dich sehr, meine kleine Hélène, du schlägst dich tapfer, finde ich, sieh nur, wie schön und unerbittlich die Nacht ist, wie schön die Sterne, die Zeit und Raum vermengen, fliegen und sterben, ohne zu erlöschen, Himmel und Erde verschmolzen, verschwundene Signale, die Straßen versunken, die märchenhafte Mischung der Formen und der Luft, was für eine Schönheit, und morgen wird es erneut beginnen; sobald das große Auspacken des Tages vorbei ist, wird es wiederkommen, das ungestillte Geheimnis, und du, meine kleine Hélène, Gast des großen Geheimnisses, ich sage dir, gehe hin!
     
    Sie ging ein Stück die von blassen Lampen gesäumte Straße entlang, letzte kleine Lichter, letzte Zuflucht vor dem Wald.
    Es war ihr erstes Rendezvous.

 
     
     
     
    D IE H ÄNDE IN DEN M ANTELTASCHEN ging sie weiter. Langsam, geradezu feierlich. Ruhig, angelockt vom Wald, wie man plötzlich von den Dämonen seiner Kindheit gerufen wird, im zwiespältigen Verlangen, sie wiederzufinden, die vertraute Beklemmung, die inneren Ängste zu spüren, und sie in den Armen zu tragen, sie an seinem köstlich erregten Herzen zu wiegen, Abscheu auf den Lippen, den bitteren Geschmack der Furcht, vertraut, so gut bekannt.
    Hinter ihr verschwanden das Hotel, das erleuchtete Zimmer, das grelle Licht der Deckenlampe und die andere Hélène hinter dem schmutzigen Vorhang, diese bewegungsunfähige Frau, die ihr voller Misstrauen nachglotzte. Die im Nebel gefangenen Bäume des Waldes wurden deutlicher sichtbar, zeichneten sich klarer ab, Hélène kannte den Namen der Bäume nicht, sie existierten seit Jahrhunderten, seit ihren Urahnen, ihren Vorfahren, ihren Hungersnöten und ihren Kriegen; sie waren da, ehe ihr Vater auf die Welt kam, um eine Vielzahl von Kindern zu zeugen und Häuser zu bauen. Sie waren da, aufgestellt wie die Grenzpfähle der Zeit, und diesen Wald durchqueren hieß, alle Jahrhunderte zu durchqueren, alle Zeitalter zu erfahren.
    Und als das Hotel nur noch eine unförmige Masse mit einem roten, verschwommenen Schild darüber war, als das Licht ihres Zimmers nur noch ein zarter Schein war, ging sie hinein.
    Unter ihren Schritten

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