Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ihre Leidenschaft

Ihre Leidenschaft

Titel: Ihre Leidenschaft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Véronique Olmi
Vom Netzwerk:
knackte der Raureif, sie meinte Kristalle zu zerbrechen, das zwischen der feuchten Erde und dem unsichtbaren Eis gefangene Laub, die Zweige und die Kieselsteine zu stören, Bestandteile einer geheimen Welt, die sie unter ihren Füßen zerquetschte.
    Sie hatte Bauchschmerzen, jene Schmerzen im Bauch, die man angesichts der Liebe verspürt, eine Mischung aus Erwartung und Befürchtung, ein Schmerz, wie wenn eine Hand dich bei den Eingeweiden packt, sich an dein Innerstes klammert, um dich vor dem bevorstehenden Einsatz deines ganzen Seins zu warnen. Sie hatte Bauchschmerzen wie ein Krieger vor der Schlacht, der weniger den Tod fürchtet als das Ausbleiben des Kampfes. Sie sprach nicht mehr mit sich, ermutigte sich nicht, sie wurde von der neuen Welt gerufen, dieser uralten, für sie neuen Welt. Sie hatte schon Schlaflosigkeit erlebt und hatte schon Wälder durchquert, aber niemals beides vereint: Sie hatte nie einen Wald in einer Nacht der Schlaflosigkeit durchquert. Sie hatte so viele Sperren in ihrem Leben aufgestellt, so viel für unmöglich erklärt, aus mangelnder Vorstellungskraft und dem Verlangen, mit den anderen und wie die anderen zu leben, zu ihrer Zeit, ihrer Welt zu gehören, aber jetzt, im ersten schüchternen Licht des Morgengrauens, spürte sie, wie die Lüge dahinschwand, je tiefer sie in den Wald eindrang und je heller das Tageslicht wurde, als hätte sie selbst es an diesen Ort gebracht – und die alten Trugbilder lösten sich auf.
    Sie zog die Handschuhe aus, um mit ausgestreckten Armen weiterzugehen, ihre Finger berührten die rauen, unregelmäßigen Bäume, das Moos, den Harz, die schroffe Rinde, die Arme ausgestreckt, die Hände nackt, ein Vogel pfiff eine schrille, durchdringende Klage und streifte die Blätter, die letzten Blätter der entblößten Bäume.
    Sie konnte nachts die Bäume streicheln.
    Sie konnte allein im Wald sein.
    Sie konnte aufs Geratewohl herumlaufen.
    Sie konnte aufhören zu schlafen.
    Sie konnte aufhören, Angst zu haben.
    Aufhören zu warten. Auf Anerkennung. Respekt. Liebe.
    Sie warf den Kopf nach hinten, der Wald kippte, sie sah direkt in den Himmel, die Handflächen jetzt an zwei geduldige Bäume gepresst, sie trat dem Himmel entgegen, wie sie als Kind dem Meer entgegengetreten war, dem fernen Meer, das in wütenden Wogen herankam, sie fand die köstlich prickelnde Angst wieder, den Wunsch, verschlungen und von ihrem Vater gerettet zu werden, in den Armen ihres Vaters, wie eine ohnmächtige Prinzessin.
    Sie lächelte dem Himmel zu, der schüchtern im Nebel verblasste, mehr Nacht noch als Tag, mehr Stolz als Hingabe, dem Himmel, zu dem die niedergestreckten Menschen beteten, die Krieger am Boden, die auf den Feldern, in den Wäldern vergessenen Verwundeten, die in seiner Grenzenlosigkeit eine Antwort suchten, ihr Leben plötzlich an der Schwelle der Unendlichkeit. Sie lächelte dem Himmel aller Fragen zu, und zum zweiten Mal ertönte der abgerissene, unmenschliche, kurze Schrei: die Detonation.
    Hélènes Herz raste. Sie hustete. Sah die reglosen Baumwipfel, versuchte sich zu erinnern, wie der Schuss geklungen hatte, um ihn zu lokalisieren, aber es kam ihr vor, als sei er direkt von ihrem Herzen losgegangen, hätte sich aus ihr gelöst, und plötzlich stand sie vor dem Tier: Es dauerte eine Sekunde, vielleicht weniger, aber diese Sekunde war unendlich lang, aufgeladen, eine Sekunde mit dem Gewicht der Hirschkuh, die vor ihr stand, tonnenschwer, innehaltend in der großen Falle des Waldes, und in ihren Augen, ihrer Panik, ihrem runden Entsetzen las Hélène, dass die Jagd weiterging.
    Sie sah das Auge der Hirschkuh, als läge es schon im Kofferraum des Mercedes, die Augen im Kofferraum, das Herz im Kästchen, die Beweise des Hasses, die Sünden der Liebe, das Auge der Hirschkuh neben den Lappen und den Stiefeln, das Auge, das Hélène ansah und sie instinktiv als menschlich erkannte, Art Raubtier, Gattung Fleischfresser, das reglose Auge über dem zitternden Körper, die zarten Hufe, die einen so schweren Körper trugen, das gehetzte Auge, die geladenen Gewehre, und Hélène, als Feindin dieses Waldes entlarvt, Feindin des Raureifs, Feindin des Himmels, gefürchtet von den Tieren … Und dann ergriff das Tier mit erschreckendem Lärm die Flucht, Hélène dachte, es sei gestürzt, gegen die Bäume gelaufen, habe die Äste abgerissen, sie hörte jetzt, ohne es zu sehen, den vergeblichen Galopp: Wenn nicht heute, dann morgen, morgen würde sein Auge den Himmel befragen,

Weitere Kostenlose Bücher