Ihre Leidenschaft
sie in diesem Zimmer zu suchen hatte, woher dieses Zimmer kam, warum ihr Mantel auf dem Stuhl, ihre Tasche auf dem Boden lag, in mehreren Wellen kamen die Splitter ihres Lebens und die Chronologie der Fakten, die Sologne, die Messe, die Nacht … und Patricks Lachen, das Ende der Heuchelei. Ihr ganzes Leben fügte sich wieder zusammen. Hier. Am Fußende des Bettes. Die Logik ihres in Unordnung geratenen Lebens. Sie seufzte lange, eine stumme Klage, fast eine Erleichterung, der ganze menschliche Unrat in dem Ramschzimmer, dem reservierten Zimmer. Auf ihren Namen. Denn sie war erwartet worden. Benannt. Und man hatte ihr den Schlüssel gereicht wie eine letzte Chance. Und was sie plötzlich verstand, was ihr geschah, überstürzt, unerwartet, die Erkenntnis, die über sie hereinbrach, machte sie schwindlig: Sie wusste. Jetzt, zum ersten Mal im Leben, wusste sie, DASS SIE NIE MEHR ANGST HABEN WÜRDE . Nichts, niemand, kein Ort, kein Ereignis, nichts würde sie mehr erschrecken. Das war ein neues Gefühl, eine unglaubliche Erkenntnis. Sie, die glaubte, alles erlebt zu haben, Freude, Einsamkeit, Trunkenheit, Schmerz, Inspiration, Stolz, Zweifel, Mut, Ekstase und Wut, sie hatte bis dahin niemals diese Gewissheit verspürt, diese Kraft, deren Heftigkeit sie begeisterte und geradezu überwältigte: Sie würde nie mehr Angst haben. Man fürchtet nur, was man nicht kennt, aber Patricks Lachen hatte Licht in ihr Dunkel gebracht. Warum eine Liebe erfinden, seine Einsamkeit schminken, jetzt war es Zeit, dem Wind entgegenzutreten, die Sintflut zu empfangen, sie war dazu imstande, weil ihr nichts mehr geschehen konnte, es war passiert, es lag hinter ihr, und sie war trotzdem nicht daran gestorben. Misshandelt, schlecht geliebt und immer noch lebendig. Und heil, sicher, voller Vertrauen in sich selbst, in ihre Lebenskraft, diese unerbittliche Gabe, die sie von einem stolzen Gott erhalten hatte, der sie zum Engel des Lichts bestimmte, zum nicht auszurottenden Unkraut, und jetzt würde sie dieses Zimmer verlassen und die Nacht der Gewehre durchqueren, die lange Nacht, die der Erlösung voranging.
III
S IE ZOG SICH AN , ihr Körper steif und unbeholfen, brennende Augen, schwerer Kopf, und trotzdem fühlte sie sich ganz neu, sie war sie selbst, zum ersten Mal kam ihr alles einfach vor. Sie war kein kleines Mädchen mehr, keine verirrte Reisende, war nicht mehr ehemalige Arme, verratene Geliebte, unbehagliche Autorin, sie war eine Frau, die sich vertraute, etwas überrascht von der Einfachheit, mit der sie plötzlich beschließen konnte, dass das Leben ihr gehörte.
Sie schwankte etwas, als sie sich anzog, den Körper zog es zum Schlaf, den Geist aber nach draußen, in das Draußen, wo die Nacht, wie es ihr vorkam, schon etwas weniger dunkel war, es war die Stunde, da sie mit dem Tag verschmolz, zwei unvereinbare Farben, die ineinanderflossen, und Hélène war wie dieser langsame Walzer, der Körper müde, der Geist hellwach, jetzt aber wusste sie, dass sie den Schlafmangel mit ihrem bloßen Willen bezwingen konnte.
Sie schob den staubigen Vorhang beiseite, draußen hatten die gelben Lichter der Auffahrt schon etwas von ihrer Kraft verloren, man sah das Ende des Weges, den Saum des Waldes, ein schlafendes Land hinter den Grenzen des letzten Dorfes.
Sie zog den Mantel und die Handschuhe an, hatte kaum einen Blick für ihre Tasche und das ausgeschaltete Handy, aber sie lächelte trotzdem, begeistert von der Erleichterung, die sie empfand, beides da, in diesem Ramschzimmer zu lassen. Es war so einfach, Papiere, Schlüssel, Nummern zurückzulassen, das Schminktäschchen, die kleinen Tarnmittelchen, das Rouge, die Haarbürste, einfach zu beschließen, dass sie nicht mehr Gewicht hatten als der blaue Duschvorhang, der unechte Marmor, der Fernseher in der Ecke und der leere Schrank.
Sie strich sich mit der Hand durch das Haar, über die Wange, den Hals. »Guten Morgen, mein Schätzchen«, sagte sie. Und sie lächelte sich zu, gerührt, amüsiert. »Geht es dir gut, mein Schätzchen? Na komm! Komm, wir gehen!«
Sie klappte den Mantelkragen hoch, wie Offiziere und feine Damen, und ihr Herz schlug schneller, als sie die Hand auf die Türklinke legte. Hinausgehen. »Hinausgehen, ohne sich umzudrehen.« Es war wie eine Liedzeile, ein Gefühl beim Samstagabendtanz, der Traum einer gealterten Jungfer, und trotzdem, sie würde es tun. Es war also möglich. Hinausgehen, ohne sich umzudrehen.
Sie öffnete die Tür, und
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