Ikone der Freiheit - Aung San Suu Kyi
traditionelle burmesische Musik hörte. Die jungen Studenten hatten eine Kassette mit der Musik von Sai Hti Hseng bei sich, der als Bob Dylan Burmas gilt. Nach einer Weile fragten sie den Besitzer, ob er nicht das Band wechseln könne, aber da begannen die älteren Männer lautstark zu protestieren. Der verbale Schlagabtausch entwickelte sich zu einem Handgemenge, und einer der Männer schlug dem Studenten Win Myint einen Stuhl auf den Kopf, woraufhin er ins Krankenhaus gebracht werden musste. Die Polizei griff ein, doch es stellte sich heraus, dass der Mann, der Win Myint geschlagen hatte, Sohn eines der lokalen Machthaber war. Er wurde unmittelbar darauf wieder aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Die Studenten wurden wütend und zogen auf die Straße, um zu protestieren. Mittlerweile waren es ein paar hundert. Auf dem Weg zur Polizeiwache begegneten sie einer Abordnung der Einsatztruppe Lon Htein, die das Feuer auf die völlig wehrlosen Studenten eröffnete. Ein junger Mann namens Maung Phone Maw starb im Kugelhagel, der Zorn der Studenten wurde größer. Am Tag danach hatten die Lon Thein den kompletten Campus des Rangoon Institute of Technology (RIT) umzingelt. Die Studenten antworteten mit neuen Demonstrationen auf dem Campusgelände. Nach 24 Stunden wurden die Zugänge zum Gelände durch Militärfahrzeuge blockiert, die Soldaten drangen mit Gewehren und Schlagstöcken ein und schlugen in blinder Wut auf alles, was sich rührte.
Gleichzeitig warfen die Behörden den staatlichen Propagandaapparat an, um eine Ausweitung der Proteste zu verhindern. Das staatliche Radio meldete, die Studenten auf dem RIT-Campus hätten sich geweigert zu verhandeln, weswegen ein militärisches Eingreifen erforderlich geworden wäre. Die Regierungszeitung
Working People’s Daily
berichtete, dass Maung Phone Maw nicht von Soldaten getötet wurde, sondern während einer Auseinadersetzung mit Zivilisten gestorben sei.
Kein Burmese, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, schenkte den Angaben Glauben. Nach 26 Jahren Militärdiktatur hatten alle gelernt, dass Zeitungen und Radio nur Lügen verbreiteten und dass die Wahrheit woanders zu suchen war. Wie der Wind verbreiteten sich die Berichte über die blutigen Szenen auf dem RIT-Gelände, und schließlich erwachten auch die Studenten der Universität von Rangun. Schnell wurde eine Demonstration mit einigen Hundert Teilnehmern organisiert, die zur nahe gelegenen RIT marschieren sollten. Nach nur wenigen Kilometern, die Sonne stand hoch am Himmel, wurde ihnen der Weg am Ufer des Inya Sees von der Armee verstellt. Mehrere Lagen Stacheldraht waren ausgerollt worden, und als sich die Studenten umwandten, trafen sie auf die Lon Thein, die den Weg aus der entgegengesetzten Richtung blockierten. Die Studenten waren wie in einem Schraubstock gefangen, und die Junta hatte sich entschieden, dieses Mal ein Exempel zu statuieren – mit tödlichen Folgen. Junge Frauen wurden bewusstlos geschlagen und vergewaltigt, andere wurden ertrinkend am Rand des Sees zurückgelassen. Viele Studenten wurden in die Militärfahrzeuge gepfercht, wo 40 von ihnen in der drückenden Mittagshitze qualvoll erstickten.
Dies war der blutige Anfang eines Sommers voller Proteste und gewaltsamer Aufstände, denen sich nach und nach immer mehr Burmesen anschlossen. Buddhistische Mönche bevölkerten zu Tausenden die Straßen, Arbeiter verließen ihre Fabriken. Grüne islamische Flaggen vermischten sich mit nationalistischen burmesischen Symbolen sowie Fahnen mit dem Pfauenmotiv, ein Symbol für die erstarkende Studentenbewegung. Christliche Geistliche der ethnischen Minderheiten trugen Schilder mit der Aufschrift »Jesus liebt Demokratie« umher. Sogar die Journalisten der ehemals so streng kontrollierten Zeitungen befreiten sich und schrieben, was sie als Wahrheit im Hinblick auf die Entwicklung des Landes auffassten. Die Richtlinien des Informationsministeriums, die jeden Morgen per Fax eintrafen und bis dahin die ganze Nachrichtenberichterstattung gesteuert hatten, landeten im Papierkorb. Die Lage war so chaotisch, dass niemand mehr kontrollieren konnte, was die Journalisten schrieben.
»Wir hatten einen Monat Freiheit, bevor das Regime wieder die Kontrolle übernahm. Es war eine eigenartige Erfahrung, endlich das schreiben zu können, was sich auf den Straßen tatsächlich zutrug«, sagte einer dieser ehemaligen Journalisten, als ich ihm einige Jahre später in Rangun begegnete. Nach dieser kurzen Phase der
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