Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Mehrere der anderen bewohnbaren Kammern standen unter Wasser – einschließlich des Forschungslabors und Urtzweils ehemaliger Kabine –, doch obwohl die Pumpen diese Räume bald geleert hatten, machte Mahnmut sich nicht die Mühe, sie mit Luft zu fluten. Stattdessen hatte er sich nach ihrem Gespräch an die O 2 -Nabelschnur gehängt und seine Milieu-Nische und den Kontrollraum leer gepumpt – um Sauerstoff zu sparen, wie er sich einredete. Er wusste aber, dass er es zum Teil auch wegen seiner Schuldgefühle getan hatte, weil er es in seinen behaglichen Nischen so bequem hatte, während Orphu litt – zumindest existenziellen Schmerz – und im dunklen Laderaum im Wasser trieb. Mahnmut konnte noch immer nichts dagegen unternehmen – nicht, solange drei Viertel des beschädigten U-Boots im Meeresboden steckten –, aber er ging in das luftleere Forschungslabor und schusterte Kommunikationsgeräte und andere Dinge zusammen, die er brauchen würde, wenn es ihm gelang, den Ionier zu befreien.
    Und mich selbst auch, dachte Mahnmut, obwohl er die Trennung von der Dark Lady nicht als Freiheit empfand. Alle europaschen Tiefsee-Kryobots hatten den Keim der Agoraphobie in sich getragen – echte Angst vor freien Räumen –, und ihre höhen entwickelten Moravec-Nachfahren hatten ihn geerbt. Am zweiten Tag, nach ihrer achten Partie Schach, sagte Orphu: »Die Dark Lady hat doch irgendeine Rettungsvorrichtung, nicht?«
    Mahnmut hatte gehofft, dass Orphu nichts davon wissen würde. »Ja«, sagte er schließlich.
    »Was für eine?«
    »Eine kleine Lebensblase«, sagte Mahnmut, der schlecht gelaunt war, weil er darüber sprechen musste. »Nicht viel größer als ich. Hauptsächlich dazu gedacht, hohen Tiefendruck zu überleben und mich an die Oberfläche zu bringen.«
    »Aber sie verfügt über eine Bake, ein eigenes Lebenserhaltungssystem, einen Antrieb und Navigationssysteme? Ein bisschen Wasser und Nahrung?«
    »Ja«, sagte Mahnmut, »was ist damit?« Du würdest nicht hineinpassen, und ich kann dich damit nicht ins Schlepptau nehmen.
    »Nichts«, sagte Orphu.
    »Ich hasse die Vorstellung, die Dark Lady zu verlassen«, erklärte Mahnmut wahrheitsgemäß. »Und ich muss jetzt noch nicht daran denken. Erst in ein paar Tagen.«
    »In Ordnung«, sagte Orphu.
    »Das ist mein Ernst.«
    »In Ordnung, Mahnmut. Ich war nur neugierig.«
    Wenn Orphu in diesem Moment sein amüsiertes Gerumpel von sich gegeben hätte, wäre Mahnmut vielleicht wirklich in die Überlebensblase gekrochen und ausgestiegen. Er war wütend auf den Ionier, weil er das Thema zur Sprache gebracht hatte. »Wollen wir noch eine Partie Schach spielen?«
    »In diesem Leben nicht mehr«, sagte Orphu.
     
    Einundsechzig Stunden nach ihrem Sturz ins Meer war auf dem Radar bloß noch ein Streitwagen zu sehen, aber der kreiste nur acht Klicks über ihnen und zehn weiter nördlich. Mahnmut holte die Periskop-Boje ein, so schnell er konnte.
    Er saß da und hörte Musik über die Bordanlage – Brahms –, und unten in seinem gefluteten Laderaum tat Orphu vermutlich dasselbe.
    Plötzlich fragte der Ionier: »Hast du dich schon mal gefragt, weshalb wir beide Humanisten sind, Mahnmut?«
    »Was meinst du damit?«
    »Du weißt doch, Humanisten. Alle Moravecs haben sich entweder zu uns Humanisten mit unserem merkwürdigen Interesse an der alten Menschheit oder zu den stärker interagierenden Typen wie Koros III. entwickelt. Sie sind es, die Moravec-Gesellschaften, Fünf-Monde-Konsortien und politische Parteien schmieden … was auch immer.«
    »Ist mir nie aufgefallen«, sagte Mahnmut.
    »Das ist nicht dein Ernst.«
    Mahnmut schwieg. Ihm ging allmählich auf, dass es ihm in den fast anderthalb Jahrhunderten seines Daseins gelungen war, sich sein Unwissen in Bezug auf so gut wie alles Wichtige zu bewahren. Er kannte nur die kalten Meere Europas – die er nie wiedersehen würde – und dieses U-Boot, das in ein paar Stunden oder Tagen als funktionierendes Gebilde zu existieren aufhören würde. Und Shakespeares Sonette und Stücke.
    Mahnmut konnte sich gerade noch beherrschen, über die Festleitung laut loszulachen. Was könnte nutzloser sein?
    Als hätte er wieder seine Gedanken gelesen, sagte Orphu: »Was würde der Barde zu unserer misslichen Lage sagen?«
    Mahnmut überflog die Energiedaten und die Verbrauchsstoff-Anzeigen. Sie konnten keine dreiundsiebzig Stunden abwarten. Sie würden in den nächsten sechs Stunden versuchen müssen, sich zu befreien. Und wenn es ihnen dann

Weitere Kostenlose Bücher