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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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nicht gelang, sich sofort aus dem Schlick zu lösen, würde der Reaktor vielleicht endgültig den Dienst einstellen, überlastet werden und …
    »Mahnmut?«
    »Tut mir Leid. Ich habe gedöst. Was ist mit dem Barden?«
    »Er muss doch etwas zu Schiffbrüchen zu sagen haben«, meinte Orphu. »Ich glaube mich an jede Menge Schiffbrüche bei Shakespeare zu erinnern.«
    »O ja«, sagte Mahnmut. »Massenhaft Schiffbrüche. Zwölfte Nacht, Der Sturm, die Liste ist ellenlang. Aber ich bezweifle, dass in den Stücken irgendetwas vorkommt, was uns in dieser Situation helfen könnte.«
    »Erzähl mir von ein paar solchen Schiffbrüchen.«
    Mahnmut schüttelte im Vakuum den Kopf. Er wusste, dass Orphu nur versuchte, ihn von den gegenwärtigen Realitäten abzulenken. »Erzähl mir von deinem geliebten Proust«, erwiderte er. »Sagt der Marcel-Erzähler jemals etwas dazu, wie es ist, einsam und verlassen auf dem Mars festzusitzen?«
    »Ja, in der Tat«, antwortete Orphu mit der ganz leisen Andeutung eines Rumpelns.
    »Du machst Witze.«
    »Ich mache nie Witze über A la recherche du temps perdu«, sagte Orphu in einem Ton, der Mahnmut fast, wenn auch nicht ganz überzeugte, dass der Ionier es ernst meinte.
    »Na schön. Was sagt Proust denn zum Thema ›Überleben auf dem Mars‹?« In fünf Minuten würde er wieder die Periskop-Boje aussetzen und die Dark Lady nach oben bringen, selbst wenn der Streitwagen zehn Meter über ihnen schwebte.
    »In Band drei der französischen Ausgabe – Band fünf der englischen Übersetzung, die ich dir heruntergeladen habe –, sagt Marcel, selbst wenn wir uns plötzlich auf dem Mars wiederfänden und uns ein Paar Flügel und einen neuen Atmungsapparat wachsen ließen, würden wir dadurch keine anderen Menschen«, sagte Orphu. »Nicht, solange wir unsere alten Sinne behielten. Nicht, solange wir in unserem alten Bewusstsein steckten.«
    »Du scherzt«, sagte Mahnmut.
    »Ich scherze nie über die Beobachtungen der Marcel-Figur in A la recherche du temps perdu.« Orphus Ton verriet Mahnmut auch diesmal, dass er sehr wohl scherzte, wenn auch nicht über diese spezielle, seltsame Bezugnahme auf den Mars. »Hast du die Ausgaben nicht gelesen, die ich dir zu Beginn unseres Fluges ins Innere des Systems geschickt habe?«
    »Doch«, sagte Mahnmut. »Wirklich. Aber die letzten paar tausend Seiten habe ich irgendwie übersprungen.«
    »Tja, das ist nicht ungewöhnlich«, sagte Orphu. »Hör zu, hier ist eine Passage, die nach dem Abschnitt mit den Flügeln und den neuen Lungen auf dem Mars kommt. Englisch oder Französisch, was ist dir lieber?«
    »Englisch«, sagte Mahnmut rasch. So kurz vor einem schrecklichen Erstickungstod wollte er nicht auch noch die Qualen auf sich nehmen, der französischen Sprache zu lauschen.
    »Die einzige wahre Reise, der einzige Jungbrunnen, wäre für uns«, rezitierte Orphu, »wenn wir nicht neue Landschaften aufsuchten, sondern andere Augen hätten, die Welt mit den Augen eines anderen, von hundert anderen betrachten, die hundert verschiedenen Welten sehen könnten, die jeder einzelne sieht, die jeder von ihnen ist.«
    Einen Moment lang vergaß Mahnmut tatsächlich ihren kurz bevorstehenden Erstickungstod, als er darüber nachdachte. »Das ist Marcels vierte und letzte Antwort auf das Rätsel des Lebens, stimmt’s, Orphu?«
    Der Ionier blieb stumm.
    »Ich meine«, fuhr Mahnmut fort, »du hast gesagt, mit den ersten drei sei Marcel gescheitert. Er versuchte, an den Snobismus zu glauben. Er versuchte, an Freundschaft und Liebe zu glauben. Er versuchte, an die Kunst zu glauben. Nichts davon hat als transzendentes Thema funktioniert. Dies ist also die vierte. Diese …« Er fand nicht das richtige Wort, nicht den richtigen Ausdruck.
    »Die Flucht des Bewusstseins aus den Beschränkungen des Bewusstseins«, sagte Orphu leise. »Die Überwindung der Grenzen der Vorstellungskraft durch die Vorstellungskraft.«
    »Ja«, hauchte Mahnmut. »Ich verstehe.«
    »Du bist jetzt meine Augen«, sagte Orphu. »Ich muss das Universum durch deine Augen sehen.«
    Mahnmut saß eine Minute lang in der zischenden Stille des Nabelschnur-Sauerstoffs. Dann sagte er: »Versuchen wir, die Dark Lady nach oben zu bringen.«
    »Und die Periskop-Boje?«
    »Zur Hölle mit ihnen, wenn sie da oben warten. Ich würde lieber im Kampf sterben, als hier unten im Schlamm zu ersticken.«
    »Gut. Du hast gesagt, ›versuchen‹ wir, die Lady nach oben zu bringen. Zweifelst du daran, dass du uns aus diesem Schleim

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