Ilium
in die Stadt Athen. Theseus schwängerte mich – ich gebar ihm eine Tochter, Iphigenie, der ich keine Liebe entgegenbringen konnte und die ich darum Klytemnästra übergab, damit diese sie mit ihrem Gemahl Agamemnon wie ihre eigene Tochter erzog. Aus dieser Ehe retteten mich meine Brüder, die mich nach Sparta zurückbrachten. Theseus zog dann mit Herkules in seinen Krieg gegen die Amazonen, in dessen Verlauf er sich die Zeit nahm, in den Hades einzudringen, eine Amazonenkriegerin zu heiraten und das Labyrinth des Minotaurus in Kreta zu erforschen.«
Mir drehte sich der Kopf. Jeder Einzelne dieser Griechen, Trojaner und Götter hatte eine Geschichte und musste sie beim geringsten Anlass erzählen. Aber was hatte all das mit …
»Ich kenne mich aus mit der Lust, Hock-en-bär-iihh«, sagte Helena. »Der große König Menelaos nahm mich zur Braut, obwohl solche Männer Jungfrauen lieben, obwohl sie ihre Blutlinie mehr lieben als das Leben und obwohl ich eine beschmutzte Ware in einer Männerwelt war, die ihre Jungfrauen derart vergöttert. Und dann kam Paris – angestachelt von Aphrodite –, entführte mich erneut und brachte mich nach Troja. Ich war seine Beute, sein … Ehrengeschenk.«
Helena unterbrach ihren Vortrag und musterte mich. Mir fiel nichts ein, was ich sagen konnte. Unter ihren kühlen, ironischen Worten verbarg sich abgrundtiefe Bitterkeit. Nein, keine Bitterkeit, erkannte ich, als ich ihr in die Augen schaute – Traurigkeit. Eine schreckliche, müde Traurigkeit.
»Hock-en-bär-iihh«, fuhr Helena fort, »hältst du mich für die schönste Frau der Welt? Bist du gekommen, um mich zu entführen?«
»Nein, ich bin nicht gekommen, um dich zu entführen. Ich könnte dich nirgendwohin bringen. Außerdem sind meine Tage gezählt, denn ich habe mir den Zorn der Götter zugezogen – ich habe meine Muse und ihre Chefin, Aphrodite, hintergangen, und wenn die Wunden geheilt sind, die Diomedes Aphrodite gestern zugefügt hat, wird sie mich so sicher, wie wir hier stehen, vom Antlitz der Erde fegen.«
»Ja?«, sagte Helena.
»Ja.«
»Komm ins Bett… Hock-en-bär-iihh.«
Ich erwache in der grauen Stunde vor Tagesanbruch. Nach unseren letzten beiden Liebesakten habe ich nur wenige Stunden geschlafen, fühle mich aber vollkommen ausgeruht. Ich liege mit dem Rücken zu Helena, weiß aber irgendwie, dass sie ebenfalls wach in diesem großen Bett mit seinen reich verzierten Pfosten liegt.
»Hock-en-bär-iihh?«
»Ja?«
»Wie dienst du Aphrodite und den anderen Göttern?«
Ich denke einen Augenblick darüber nach, dann drehe ich mich um. Dort liegt die schönste Frau der Welt im Halbdunkel, auf einen Ellbogen gestützt, das lange, dunkle, von unseren Notturnos zerzauste Haar fällt ihr um die nackte Schulter und den Arm, und ihre Augen mit den großen, dunklen Pupillen schauen aufmerksam in meine.
»Wie meinst du das?«, frage ich, obwohl ich es weiß.
»Weshalb haben die Götter dich durch Zeit und Raum hergeholt, wie du sagst, damit du ihnen dienst? Besitzt du irgendwelche Kenntnisse, die sie brauchen?«
Ich schließe für einen Moment die Augen. Wie kann ich es ihr nur erklären? Eine ehrliche Antwort wäre Wahnsinn. Aber – wie bereits zugegeben – ich bin es gründlich leid zu lügen. »Ich weiß etwas über den Krieg dort draußen«, sage ich. »Ich kenne manche Ereignisse, die eintreten werden … eintreten könnten.«
»Dienst du als Orakel?«
»Nein.«
»Dann verstehe ich es nicht«, sagt Helena.
Ich setze mich auf und rücke mir ein paar Kissen zurecht, um es bequemer zu haben. Es ist noch dunkel, aber auf dem Hof beginnt ein Vogel zu singen. »Dort, wo ich herkomme«, flüstere ich, »gibt es ein Lied, ein Gedicht über diesen Krieg. Es heißt Ilias. Bisher ähneln die Ereignisse des wirklichen Krieges denen in diesem Lied.«
»Du sprichst, als wären diese Belagerung und dieser Krieg in dem Land, aus dem du kommst, schon eine alte Geschichte«, sagt Helena. »Als wäre all dies bereits geschehen.«
Gib das nicht zu. Es wäre töricht. »Ja«, sage ich. »Das ist die Wahrheit.«
»Du bist eine der Schicksalsgöttinnen«, sagt sie.
»Nein. Ich bin bloß ein Mensch.«
Helena lächelt mit schalkhafter Belustigung. Sie berührt das Tal zwischen ihren Brüsten, wo ich erst vor ein paar Stunden zum Höhepunkt gelangt bin. »Das weiß ich, Hock-en-bär-iihh.«
Ich erröte, reibe mir die Wangen und spüre meine Bartstoppeln. Heute früh keine Rasur in der Scholikerkaserne. Wozu
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