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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sein, Tommy, mein Junge, warnt mich der vernünftige Teil meines Gehirns. Aber ich sage trotzdem die Wahrheit. »Ich weiß es nicht. Ich wüsste nicht, wieso. Wenn es mein … Schicksal ist, heute zu sterben, dann ist es vermutlich egal, ob ich von deiner Hand den Tod finde oder ob Aphrodite mich umbringt. Jedenfalls bin ich in diesem Drama kein Akteur, sondern nur ein Beobachter.«
    Helena nickt, wirkt aber noch immer gedankenverloren, als wäre ihre Frage nach meinem Tod ohnehin nicht weiter von Bedeutung. Sie hebt den Dolch, bis seine Spitze fast die straffe weiße Haut unter ihrem Kinn berührt.
    »Und wenn ich mir jetzt das Leben nehme? Ändert sich dann das Lied?«, fragt sie.
    »Ich glaube nicht, dass es Ilium retten oder etwas am Ausgang des Krieges ändern würde«, antworte ich. Das stimmt nicht ganz. Helena ist eine zentrale Figur in Homers Ilias, und ich habe keine Ahnung, ob die Griechen bleiben würden, um den Krieg zu Ende zu führen, wenn sie Selbstmord beginge. Wofür sollten sie kämpfen, wenn Helena tot wäre? Ruhm, Ehre, Plünderung. Andererseits: Wenn Helena als Kriegsbeute für Agamemnon und Menelaos wegfiele und Achilles immer noch schmollend in seinem Zelt säße, würde allein die Aussicht auf Plünderung die Zehntausende anderer Achäer dazu bewegen, weiterhin am Kampf teilzunehmen? Sie plündern nun schon seit fast einem Jahrzehnt Inseln und trojanische Küstenstädte. Vielleicht haben sie genug und suchen nur nach einem Vorwand. Hat Menelaos sich nicht auf den Zweikampf mit Paris eingelassen, um eine Entscheidung herbeizuführen, bevor Aphrodite Paris verschwinden ließ? Zurück in dieses Bett, wo Helena und Paris erst vor Stunden miteinander geschlafen haben. Vielleicht würde Helenas Selbstmord den Krieg tatsächlich beenden.
    Sie lässt den Dolch sinken. »Ich denke seit zehn Jahren an Selbstmord, Hock-en-bär-iihh. Aber ich bin zu lebenslustig und zu wenig todessüchtig, obwohl ich den Tod verdiene.«
    »Du verdienst den Tod nicht«, sage ich.
    Sie lächelt. »Verdient Hektor den Tod? Oder sein Kind? Oder Fürst Priamos, der großzügigste all meiner Väter? Verdienen all diese Menschen, die du dort draußen in der Stadt aufwachen hörst, den Tod? Verdienen selbst die Krieger – Achilles und alle anderen, die schon in den kalten Hades gegangen sind – den Tod wegen einer wankelmütigen Frau, die sich für Leidenschaft und Eitelkeit entschied und ihrem Entführer folgte, statt ihrem Gatten die Treue zu halten? Und was ist mit den abertausend Trojanerinnen, die ihren Göttern und Gatten brav gedient haben, die jedoch meinetwegen von ihrem Zuhause und ihren Kindern weggerissen und in die Sklaverei verkauft werden? Verdienen sie solch ein Schicksal, Hock-en-bär-iihh, nur weil ich am Leben bleiben will?«
    »Du verdienst den Tod nicht«, wiederhole ich störrisch. Ihr Duft ist noch immer an meiner Haut, meinen Fingern, in meinen Haaren.
    »Na schön.« Helena schiebt den Dolch unter die Matratze. »Hilfst du mir dann, am Leben und in Freiheit zu bleiben? Hilfst du mir, diesen Krieg zu beenden? Oder zumindest seinen Ausgang zu ändern?«
    »Wie meinst du das?« Auf einmal bin ich wachsam. Ich habe kein Interesse daran, den Trojanern zu helfen, diesen Krieg zu gewinnen. Und ich könnte es auch nicht, selbst wenn ich es wollte. Zu viele Kräfte sind hier im Spiel, ganz zu schweigen von den Göttern. »Helena«, sage ich, »es war mir ernst damit, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt. Aphrodite kommt heute aus ihrem Genesungsbottich, und obwohl ich mich eine Zeit lang vor den anderen Göttern verstecken könnte, ist es ihr möglich, mich zu finden, wenn sie will. Selbst wenn sie mich nicht auf der Stelle wegen meines Ungehorsams tötet, werde ich in der kurzen Zeit, die mir als Scholiker noch bleibt, nicht mehr in Freiheit sein, um etwas zu unternehmen.«
    Helena streift das Laken von meinem Unterleib. Es wird jetzt heller, und ich sehe sie besser denn je, seit ich sie am Vorabend im Bad beobachtet habe. Sie schwingt das Bein hoch und setzt sich rittlings auf mich, eine Hand flach auf meiner Brust, während ihre andere Hand nach unten wandert, findet, was sie sucht, und ermutigend tätig wird.
    »Hör mir zu.« Sie schaut über ihre Brüste hinweg auf mich herunter. »Wenn du unser Schicksal ändern willst, musst du den Angelpunkt finden.«
    Ich fasse das als Einladung auf und versuche, meinen wieder erstandenen Bengel in ihre Spalte zu schieben.
    »Nein, noch nicht«, sagt sie leise. »Hör

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