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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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schnell, die Klinge schnitt durch Seide und Haut, und ich fühlte, wie mir das Blut über den Bauch lief.
    Ich machte ihr deutlich, dass ich die rechte Hand sehr, sehr langsam bewegen würde, öffnete die leuchtenden Funktionen am Morpharmband und berührte das Symbol.
    Ich war wieder Thomas Hockenberry – kleiner, dünner, schlaksiger, ein wenig kurzsichtig und mit schütterem Haar.
    Helena zwinkerte einmal, und der Dolch zuckte nach oben – eine schnellere Bewegung, als ich sie einem Menschen zugetraut hätte. Ich hörte, wie etwas zerriss. Aber es waren nicht meine Bauchmuskeln, die aufgeschlitzt wurden, sondern nur der Gürtel des Gewands und der seidige Stoff selbst.
    »Nicht bewegen«, sagte sie leise. Helena von Troja öffnete mein Gewand und zog es mir mit der freien Hand von den Schultern.
    Nackt und blass stand ich vor diesem eindrucksvollen Weib. Wenn man für ein Wörterbuch jemals eine hundertprozentig zutreffende Definition des Begriffs »erbärmlich« brauchte, würde ein Foto dieses Moments genügen.
    »Du darfst dein Gewand wieder anziehen«, sagte sie nach einer Weile.
    Ich hob es auf und legte es mir um. Da der Gürtel zerschnitten war, hielt ich es mit der Hand zusammen. Helena schien nachzudenken. Mehrere Minuten lang standen wir schweigend auf der Terrasse. Selbst zu so später Stunde waren die Türme Iliums noch von Fackeln erleuchtet. Wachfeuer flackerten überall auf den Brustwehren der fernen Mauern. Weiter im Süden, jenseits des skäischen Tors, brannten die Scheiterhaufen. Im Südwesten wetterleuchteten Blitze in den turmhohen Gewitterwolken. Es waren keine Sterne zu sehen, und die Luft roch nach dem Regen, der vom Ida-Gebirge heranzog.
    »Woher wusstest du, dass ich nicht Paris war?«, fragte ich schließlich.
    Helena erwachte mit einem Zwinkern aus ihren Träumereien und schenkte mir ein kleines Lächeln. »Eine Frau mag die Augenfarbe ihres Geliebten, den Klang seiner Stimme, sogar die Einzelheiten seines Lächelns oder seiner Gestalt vergessen, aber niemals, wie ihr Geliebter fickt.«
    Diesmal war ich derjenige, der überrascht zwinkerte, und nicht nur wegen Helenas Ausdrucksweise. Homer hatte ein wahres Loblied auf Paris’ Äußeres gesungen – er hatte ihn mit einem Pferd im Stall, das sich satt fraß an der Krippe verglichen, als er beschrieb, wie Paris in dieser Nacht zu Hektor draußen vor der Stadt eilte, den hurtigen Füßen vertrauend … stolz und aufrecht hält es das Haupt, und um seine Schultern flattern die Haare der Mähne. Paris war, im Sprachgebrauch meines früheren Lebens, ein sexy Mannsbild. Und während ich in Helenas Bett lag, hatte ich Paris’ lange, flatternde Haare besessen, seinen sonnengebräunten Körper, seinen Waschbrettbauch, seine geölten Muskeln, seinen …
    »Dein Penis ist größer«, sagte Helena.
    Ich zwinkerte, erneut. Diesmal zweimal. Sie hatte natürlich nicht das Wort »Penis« benutzt – Latein war noch keine richtige Sprache –, und das griechische Wort, das sie gewählt hatte, war ein Slangausdruck, der näher bei »Schwanz« lag. Aber das ergab keinen Sinn. Beim Sex mit ihr hatte ich Paris’ Penis gehabt …
    »Nein, daran habe ich nicht gemerkt, dass du nicht mein Liebhaber bist«, sagte Helena. Sie schien meine Gedanken zu lesen. »Das ist nur eine schlichte Feststellung.«
    »Aber wie …«
    »Ja«, sagte Helena. »Es lag an der Art, wie du mich gevögelt hast, Hock-en-bär-iihh.«
    Darauf wusste ich nichts zu erwidern, und selbst wenn, so hätte ich mich nicht verständlich ausdrücken können.
    Helena lächelte erneut. »Paris hat es nicht in Sparta, wo er mich gewann, zum ersten Mal mit mir getrieben, auch nicht in Ilium, wohin er mich brachte, sondern unterwegs, auf der kleinen Insel Kranae.«
    Ich kannte keine Insel namens Kranae, und da das Wort auf Altgriechisch nur »felsig« bedeutete, meinte sie wohl, dass Paris ihre Reise unterbrochen hatte, um an einer kleinen, felsigen, namenlosen Insel anzulegen und Helena dort, fern von der wachsamen Besatzung des Schiffes, zu bumsen. Das würde bedeuten, dass Paris … ungeduldig war. Genau wie du, Hockenberry, meldete sich eine Stimme in mir, die der meines Gewissens nicht ganz unähnlich war. Zu spät für Gewissensbisse.
    »Seitdem hat er mich hunderte Male gehabt – und ich ihn«, sagte Helena leise, »aber nie so wie heute Nacht. Nie so wie heute Nacht.«
    Ich war völlig verwirrt und platzte fast vor Stolz. War das gut? War das ein Kompliment? Nein, Moment … das war

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