Ilium
hinaus. Eine Minute lang vergesse ich meine Kassandra-Rolle und starre nur geradezu ehrfürchtig auf die dunklen Haare, die ihr über den Rücken fallen, auf ihre perfekten Pobacken und kräftigen Beine. Sie steht nackt am Geländer und sagt, ohne sich zu mir umzudrehen: »Und was ist mit dir, Hock-en-bär-iihh? Haben die Moiren dir in ihrem Lied auch dein Schicksal geweissagt?«
»Nein«, gestehe ich. »Ich komme nicht vor in dem Gedicht, dazu bin ich nicht wichtig genug. Aber ich bin ziemlich sicher, dass ich heute sterben werde.«
Sie dreht sich um. Nach allem, was ich ihr erzählt habe, erwarte ich, dass Helena weint – sofern sie mir denn glaubt –, aber sie lächelt ein wenig. »Nur ›ziemlich sicher‹?«
»Ja.«
»Aphrodites Zorn bringt dir den Tod?«
»Ja.«
»Ich habe diesen Zorn zu spüren bekommen, Hock-en-bär-iihh. Wenn ihr der Sinn danach steht, dich zu töten, dann wird sie es tun.«
Wirklich sehr ermutigend. Ich schweige eine Weile. Durch die offene Terrassentür auf der Stadtseite dringt ein dumpfes Gemurmel herein. »Was ist das?«, frage ich.
»Die Trojanerinnen flehen Athene noch immer um Gnade und göttlichen Beistand an. Sie singen und opfern ihr in ihrem Tempel, wie Hektor es befohlen hat.« Helena wendet sich wieder von mir ab und starrt in den Innenhof hinunter, als suchte sie diesen einsamen Singvogel.
Zu spät für Athenes Gnade, denke ich. Dann sage ich, ohne darüber nachzudenken: »Aphrodite will, dass ich Athene töte.«
Helenas Kopf fährt herum, und selbst im Halbdunkel kann ich ihre schockierte Miene, die Blässe in ihrem Gesicht sehen. Es ist, als würde sie endlich auf alle meine schrecklichen Orakel-Mitteilungen reagieren. Sie kommt nackt zurück und setzt sich auf den Rand des Bettes, in dem ich liege, auf einen Ellbogen gestützt.
»Hast du gesagt, du sollst Athene töten?«, wispert sie so leise wie noch nie seit Beginn unseres Gesprächs.
Ich nicke.
»Dann können die Götter also getötet werden?« Ihre Stimme ist so gedämpft, dass ich sie selbst aus einem halben Meter Entfernung kaum hören kann.
»Ich glaube schon. Erst gestern habe ich gehört, wie Zeus Ares erklärt hat, Götter könnten sterben.« Dann erzähle ich ihr von Aphrodite und Ares, ihren Verletzungen und dem seltsamen Ort, wo sie genesen. Ich erkläre ihr, dass Aphrodite irgendwann im Verlauf dieses Tages aus dem Bottich kommen wird – dass sie vielleicht schon herausgekommen ist, weil es auf dem Olymp zur gleichen Zeit Tag und Nacht ist wie in Ilium und es darum auch dort fast schon »morgen« ist.
»Du kannst auf den Olymp reisen?«, flüstert sie. Helena scheint in Gedanken versunken zu sein. Ihre Miene hat sich langsam verändert, statt des schockierten Ausdrucks zeigt ihr Gesicht nun … ja, was? »Von Ilium zum Olymp und zurück, wann immer du willst?«
Hier zögere ich. Ich weiß, dass ich schon zu viel erzählt habe. Was, wenn diese Helena nur meine Muse in gemorphter Gestalt ist? Aber ich weiß, dass sie es nicht ist. Fragt mich nicht, woher ich es weiß. Und zur Hölle damit, wenn sie es doch ist.
»Ja.« Ich flüstere jetzt ebenfalls, obwohl der Haushalt noch nicht erwacht ist. »Ich kann mich zum Olymp begeben, wann ich will, und dort bleiben, ohne dass die Götter mich sehen können.« Abgesehen vom Gesang des Vogels, der irrtümlich glaubt, es sei schon fast Tag, herrscht unheimliche Stille in der Stadt und im Palast. Am Haupteingang stehen Wachposten, wie ich weiß, aber ich höre weder ihre Sandalen schlurfen noch ihre Speerenden über den Stein kratzen. Über die sonst niemals vollkommen stillen Straßen Iliums scheint sich ein Schweigen gelegt zu haben. Selbst der monotone Singsang der Frauen im Tempel der Athene ist verstummt.
»Hat Aphrodite dir etwas gegeben, womit du Athene töten kannst, Hock-en-bär-iihh? Irgendeine Waffe der Götter?«
»Nein.« Ich sage ihr nichts vom Hades-Helm des Todes, dem QT-Medaillon oder meinem Taser-Stock. Nichts davon könnte eine Göttin töten.
Auf einmal hat sie wieder den kurzen Dolch in der Hand. Er ist nur Zentimeter von meiner Haut entfernt. Wo bewahrt sie das Ding auf? Wie macht sie das, ihn auf diese Weise urplötzlich auftauchen zu lassen? Wir haben beide unsere kleinen Geheimnisse, schätze ich.
Der Dolch kommt noch näher. »Wenn ich dich jetzt töte«, sagt Helena, »ändert sich dann das Lied über Ilium, das du kennst? Ändert sich die Zukunft … diese Zukunft?«
Dies ist nicht der richtige Moment, um ehrlich zu
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