Ilium
auch? Du hast nur noch Stunden zu leben.
»Beantwortest du mir meine Fragen über die Zukunft?« Ihre Stimme ist schrecklich sanft.
Es wäre Wahnsinn, das zu tun. »Eigentlich weiß ich nichts über deine Zukunft«, sage ich unaufrichtig. »Ich kenne nur die Einzelheiten dieses Liedes, und es hat schon viele Unstimmigkeiten zwischen ihm und den tatsächlichen Ereignissen gegeben …«
»Beantwortest du mir meine Fragen über die Zukunft?« Sie legt mir die Hand auf die Brust.
»Ja«, sage ich.
»Ist Ilium zum Untergang verurteilt?« Helenas Stimme ist ruhig, gelassen, sanft.
»Ja.«
»Wird die Stadt mit Gewalt oder durch eine List eingenommen?«
Um Himmels willen, das darfst du ihr nicht verraten, denke ich. »Durch eine List«, sage ich.
Helena lächelt sogar. »Odysseus«, murmelt sie.
Ich schweige. Ich rede mir ein, dass diese Enthüllungen sich vielleicht nicht auf die Ereignisse auswirken werden, wenn ich ihr keine Einzelheiten nenne.
»Stirbt Paris, bevor Troja fällt?«
»Ja.«
»Von Achilles’ Hand?«
Keine Einzelheiten!, schreit mein Gewissen. »Nein«, sage ich. Scheiß drauf.
»Und der edle Hektor?«
»Tot«, sage ich und fühle mich wie ein bösartiger Richter, der mit dem Todesurteil rasch bei der Hand ist.
»Von Achilles’ Hand?«
»Ja.«
»Und Achilles? Kehrt er lebend heim aus diesem Krieg?«
»Nein.« Sein Schicksal ist besiegelt, sobald er Hektor erschlägt, und das hat er schon immer gewusst… von einer Prophezeiung, die er seit Jahren wie einen Krebs mit sich herumträgt. Langes Leben oder Ruhm? Homer zufolge musste … muss … wird er sich dazwischen entscheiden müssen. Aber die Prophezeiung lautet: Wenn er ein langes Leben wählt, wird er nur als Mensch bekannt sein, nicht als der Halbgott, zu dem er aufsteigt, wenn er Hektor im Zweikampf tötet. Aber er hat eine Wahl. Die Zukunft ist nicht festgelegt!
»Und König Priamos?«
»Tot«, flüstere ich heiser. Niedergemacht in seinem eigenen Palast, in seinem privaten Tempel für Zeus. In blutige Stücke zerhackt wie eine den Göttern geopferte Färse.
»Und Hektors kleiner Sohn, Skamandrios, den die Leute Astyanax nennen?«
»Tot.« Ich schließe die Augen vor dem Bild, wie Pyrrhos den schreienden Säugling von der Mauer wirft.
»Und Andromache«, wispert Helena. »Hektors Gemahlin?«
»Eine Sklavin«, sage ich. Wenn Helena mit dieser Litanei von Fragen weitermacht, drehe ich mit ziemlicher Sicherheit durch. Aus der Ferne – vom Scholiker-Standpunkt des desinteressierten Beobachters aus – war es in Ordnung. Aber jetzt spreche ich von Menschen, die ich kenne, denen ich begegnet bin und … mit denen ich geschlafen habe. Mir fällt auf, dass Helena nicht nach ihrem eigenen Schicksal gefragt hat. Vielleicht wird sie es auch nicht tun.
»Und ich? Sterbe ich mit Ilium?«, fragt sie, immer noch mit ruhiger Stimme.
Ich hole tief Luft. »Nein.«
»Aber Menelaos findet mich?«
»Ja.« Ich fühle mich wie eine jener schwarzen Weissagungs-Billardkugeln, die in meiner Kindheit so beliebt waren. Warum habe ich ihr nicht so geantwortet wie diese schwarze Kugel? Das entspräche eher dem Orakel von Delphi – die Zukunft ist ungewiss. Oder neue Frage. Gebe ich vor dieser Frau an?
Jetzt ist es zu spät.
»Menelaos findet mich, tötet mich aber nicht? Ich überlebe seinen Zorn?«
»Ja.« Ich erinnere mich, wie Odysseus in der Odyssee davon erzählt – Menelaos findet Helena, die sich in Deiphobos Gemächern im großen Königspalast verbirgt, beim Palladion-Schrein, und der gehörnte Gatte stürzt sich mit gezogenem Schwert auf sie, um diese schöne Frau zu töten. Helena entblößt ihre Brüste, als wollte sie ihn zu dem Stoß auffordern, als wünschte sie sich den Tod – und dann lässt Menelaos sein Schwert sinken und küsst sie. Es ist unklar, ob er Deiphobos, einen von Priamos’ Söhnen, vor all dem tötet oder erst, nachdem er …
»Aber er bringt mich nach Sparta zurück?«, flüstert Helena. »Paris tot, Hektor tot, alle großen Krieger Iliums gefallen oder mit dem Schwert hingerichtet, alle großen Frauen Trojas tot oder in die Sklaverei verschleppt, die Stadt selbst niedergebrannt, ihre Mauer durchbrochen, ihre Türme geschleift, die Erde gesalzen, damit hier nie wieder etwas wächst … aber ich bleibe am Leben und werde von Menelaos nach Sparta zurückgebracht?«
»So ungefähr«, sage ich und höre selbst, wie lahm es klingt.
Helena rollt sich aus dem Bett, steht auf und tritt nackt auf die Terrasse zum Hof
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