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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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absurd. Homer zufolge war Paris fast gottgleich in seiner körperlichen Schönheit und seinem Charme, ein großartiger Liebhaber, dem sterbliche Frauen ebenso wenig widerstehen konnten wie Göttinnen, und das musste bedeuten, dass Helena damit nur sagen wollte, dass …
    »Du«, unterbrach sie meine wirren Gedanken, »du warst … ernst.«
    Ernst? Ich ballte die Hand fester um den Stoff des Gewands und schaute zum aufziehenden Gewitter hinüber, um meine Verlegenheit zu verbergen. Ernst.
    »Aufrichtig«, sagte sie. »Sehr aufrichtig.«
    Wenn sie nicht bald den Mund hielt und aufhörte, nach Synonymen für »erbärmlich« zu suchen, würde ich ihr vielleicht noch den Dolch entwinden und mir eigenhändig die Kehle durchschneiden.
    »Haben die Götter dich zu mir geschickt?«, fragte sie.
    Ich überlegte, ob ich ihr eine Lüge auftischen sollte. Sicherlich würde nicht einmal diese willensstarke Frau jemanden ausweiden, der einen Botengang für die Götter ausführte. Aber ich entschied mich dagegen. Helena von Troja schien die Fähigkeit zu besitzen, mich auf fast telepathische Weise zu durchschauen. Und es war ein gutes Gefühl, zur Abwechslung einmal die Wahrheit zu sagen.
    »Nein«, sagte ich. »Niemand hat mich geschickt.«
    »Du bist nur hergekommen, weil du mit mir ins Bett gehen wolltest?«
    Nun, wenigstens hatte sie nicht wieder das f-Wort benutzt. »Ja«, sagte ich. »Ich meine, nein.«
    Sie sah mich an. Irgendwo in der Stadt lachte erst ein Mann, dann eine Frau. Ilium schlief nie.
    »Ich meine – ich war einsam«, sagte ich. »Ich bin nun seit Beginn dieses Krieges hier, und ich war immer allein, hatte niemanden, mit dem ich reden, niemanden, mit dem ich näher in Kontakt kommen konnte …«
    »Mit mir bist du genug in Kontakt gekommen«, sagte Helena.
    Ich konnte ihrem Ton nicht entnehmen, ob das Sarkasmus oder ein Vorwurf war. »Ja«, sagte ich.
    »Bist du verheiratet, Hock-en-bär-iihh?«
    »Ja. Nein.« Ich schüttelte erneut den Kopf. Helena musste mich für einen kompletten Idioten halten. »Ich glaube, ich war verheiratet«, sagte ich, »aber wenn es so war, dann ist meine Frau tot.«
    »Du glaubst, du warst verheiratet?«
    »Die Götter haben mich durch Zeit und Raum auf den Olymp gebracht«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass sie es nicht verstehen würde, aber das war mir egal. »Ich glaube, ich bin in meinem anderen Leben gestorben, und sie haben mich irgendwie wieder lebendig gemacht. Aber sie haben mir nicht alle meine Erinnerungen zurückgegeben. Bilder aus meinem wirklichen Leben, meinem früheren Leben kommen und gehen … wie Träume.«
    »Ich verstehe«, sagte Helena. An ihrem Ton merkte ich irgendwie, dass sie es erstaunlicherweise tatsächlich verstand.
    »Dienst du einem bestimmten Gott oder einer bestimmten Göttin, Hock-en-bär-iihh?«
    »Ich erstatte einer der Musen Bericht. Aber ich habe erst gestern erfahren, dass Aphrodite mein Schicksal lenkt.«
    Helena blickte überrascht auf. »Und sie hat auch meines gelenkt«, sagte sie leise. »Erst gestern, als die Göttin Paris vor Menelaos’ Zorn gerettet und ihn hierher gebracht hat, in unser Bett, hat sie mir befohlen, zu ihm zu gehen. Als ich protestierte, geriet sie in Wut und drohte mir, mich zur Zielscheibe des starken, vernichtenden Hasses – ihre Worte – sowohl der Trojaner als auch der Achäer zu machen.«
    »Die Göttin der Liebe«, sagte ich leise.
    »Die Göttin der Lust«, entgegnete Helena. »Und ich weiß eine Menge über die Lust, Hock-en-bär-iihh.«
    Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
    »Meine Mutter hieß Leda. Man nannte sie die Tochter der Nacht«, sagte sie im Plauderton. »Zeus kam in Gestalt eines Schwans – eines großen, geilen Schwans – zu ihr und fickte sie. Ein Wandgemälde in meinem Elternhaus zeigte meine beiden älteren Brüder, einen Altar für Zeus und mich als Ei, das darauf wartete, ausgebrütet zu werden.«
    Ich konnte nicht anders – ich stieß ein bellendes Lachen aus. Dann zogen sich meine Bauchmuskeln in Erwartung der Klinge zusammen, die sie durchstoßen würde.
    Stattdessen lächelte Helena breit. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß, was es heißt, entführt zu werden und eine Schachfigur der Götter zu sein, Hock-en-bär-iihh.«
    »Ja«, sagte ich. »Als Paris nach Sparta kam …«
    »Nein«, unterbrach Helena. »Als ich elf war, Hock-en-bär-iihh, wurde ich von Theseus, der die attischen Gemeinden vereinigt hatte, aus dem Tempel der Artemis Orthia verschleppt – er entführte mich

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