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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sich so oft gebrüstet hat, und ist zur Höhlenmenschentaktik zurückgekehrt. Er hebt den Stein und holt mit dem linken Arm weit aus. In diesem Moment hat er größte Ähnlichkeit – finde ich – mit Sandy Koufax, der zu einem Wurf ansetzt. Erst heute fällt mir auf, dass Hektor beidhändig ist.
    Teukros sieht seine Chance, nimmt einen weiteren Pfeil aus dem Köcher und spannt den Bogen bis zum Anschlag. Er zielt auf Hektors Herz, fest davon überzeugt, dass er noch einen oder vielleicht sogar zwei Schüsse abgeben kann, bevor Hektor wirft.
    Er irrt sich. Hektor wirft kraftvoll, schnell, flach und genau.
    Der Stein trifft Teukros am Schlüsselbein, direkt neben dem Hals, unmittelbar bevor der Bogenschütze den Pfeil fliegen lässt. Knochen brechen. Sehnen reißen. Teukros’ Hand erschlafft, die Bogensehne sirrt, und der Pfeil gräbt sich zwischen den Sandalen des Bogenschützen in den Boden.
    Hektor stürmt nach vorn, verstreut Achäer wie Spreu, und die trojanischen Bogenschützen überschütten den gestürzten Teukros mit einem Pfeilhagel, aber der große Ajax lässt seinen Bruder nicht im Stich; er deckt ihn mit seiner Mauer von einem Schild, während andere Achäer die trojanische Infanterie zurückschlagen. Auf Ajax’ Ruf – oder vielmehr Gebrüll – hin eilen Mekisteus und Alastor nach vorn und tragen den stöhnenden, halb ohnmächtigen achäischen Bogenschützen über die Grabenbrücke zurück in die relative Sicherheit im Schatten ihrer bauchigen Schiffe.
    Aber Teukros’ Viertelstunde des Ruhms ist um.
    Danach verschlechtert sich die Lage für die Griechen rapide. Dass er noch am Leben ist, betrachtet Hektor als ein weiteres Zeichen von Zeus’ Liebe und Einverständnis. An der Spitze seiner Männer attackiert er die entmutigten, zurückweichenden Achäer ein ums andere Mal.
    Agamemnon, Menelaos und die anderen Herrscher, die ihre Männer noch vor ein paar Stunden frohgestimmt in den Kampf geführt haben, sind jetzt wirklich und wahrhaftig besiegt. Auf ihrer heillosen Flucht bemannen die Achäer anfangs nicht einmal ihre Befestigungsanlagen hinter dem Graben, den Schanzpfählen und dem behelfsmäßigen Wall, und nur der Sonnenuntergang und die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit halten die Trojaner davon ab, die Schiffe auf der Stelle zu erstürmen und in Brand zu stecken.
    Während die Achäer verwirrt durcheinander wimmeln – einige Männer machen ihre Schiffe bereits abfahrbereit, andere sitzen wie traumatisiert und mit leerem Blick herum –, spielt Hektor Heinrich V.; unermüdlich läuft er an den trojanischen Schlachtreihen entlang, spornt seine Kämpfer an, bei Tagesanbruch ein noch größeres Blutbad anzurichten, schickt Männer in die Stadt, um Vieh herauszutreiben, das geschlachtet, geopfert und bei einem Festschmaus verspeist werden soll, lässt auch honigsüßen Wein herbeischaffen und die Wagen mit frisch gebackenem Brot kommen, über das die heißhungrigen Trojaner herfallen, als wäre es Agamemnon persönlich, und erteilt den Befehl, unmittelbar vor den achäischen Befestigungsanlagen Hunderte von Wachtfeuern zu entzünden, damit die ängstlichen Griechen in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Ich setze meinen Hades-Helm auf und schlendere unsichtbar unter den Trojanern umher.
    »Morgen«, ruft Hektor seinen jubelnden Recken zu, »weide ich Diomedes vor seinen Männern aus wie einen zappelnden Fisch, wenn er heute Nacht nicht die Flucht ergreift. Ich breche ihm mit meiner Speerspitze das Rückgrat, und dann nageln wir den Kopf des Prahlhanses über das skäische Tor!«
    Die Trojaner brechen in stürmisches Jubelgeschrei aus. Von den Wachtfeuern stieben Funken zu den unverwandt brennenden Sternen empor. Unsichtbar für Götter und Menschen überquere ich die Grabenbrücke, schlängele mich zwischen den angespitzten Pfählen hindurch und gehe wieder unter den entmutigten Griechen umher.
    Für mich ist nun der Moment der Entscheidung gekommen. Agamemnon hat bereits die Versammlung seiner Truppenführer einberufen, und sie diskutieren über ihre nächsten Schritte – sollen sie fliehen oder eine Gesandtschaft zu Achilles schicken?
    Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich nehme die Gestalt von Phönix an, Achilles’ treuem myrmidonischem Erzieher und Freund, und gehe über den abkühlenden Sand, um an der Beratung teilzunehmen.
    Wenn du unser Schicksal ändern willst, musst du den Angelpunkt finden.
     

28
Das Mittelmeerbecken
    Savi folgte dem atlantischen Bruch übers Meer. Manchmal flog

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