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Ilium

Titel: Ilium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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sich mir unterordnen!«, wird er Nestor, Odysseus, Diomedes und die anderen Führer in ein paar Stunden anschreien. »Ich bin der größere König, an Geburt der Ältere und, so behaupte ich, ein größerer Mann als er.«
    Odysseus und die anderen sehen aber trotz Agamemnons Arroganz einen Ausweg. Wenn sie Achilles die Botschaft von Briseis’ Rückkehr und all diesen anderen wundervollen Geschenken überbringen (und das mit dem »größeren Mann« einfach weglassen), dann, so denken sie, besteht eine Chance, dass Achilles wieder am Kampf teilnimmt. Diese Gesandtschaft zu Achilles ist zumindest ein Hoffnungsschimmer.
    Aber hier wird es nun kompliziert – und vielleicht ist der Angelpunkt hier auch schon gefunden.
    Als Gelehrter weiß ich in der Tiefe meines Herzens, dass die Gesandtschaft an Achilles der Kern, die Schlüsselszene der Ilias ist. Die Entscheidungen, die Achilles trifft, nachdem er sich die dringenden Bitten der Gesandten angehört hat, werden den Ablauf aller künftigen Ereignisse bestimmen – Hektors Tod, den darauf folgenden Tod von Achilles und den Untergang Iliums.
    Doch jetzt kommt der knifflige Teil. Homer wählt seine Worte sehr sorgfältig – vielleicht sorgfältiger als irgendein anderer Erzähler in der Geschichte. Er erzählt uns, dass Nestor fünf Gesandte ernennt – Phönix, den großen Ajax, Odysseus, Odios und Eurybates. Die letzten beiden sind reine Herolde, Dekorationen um des Protokolls willen, und werden nicht mit den echten Gesandten in Achilles’ Zelt eintreten und an der dortigen Diskussion teilnehmen.
    Das Problem ist: Es ist seltsam, dass die Wahl auf Phönix fällt. Bisher ist er in der Geschichte nicht aufgetaucht. Der Myrmidone ist kein Truppenführer, sondern eher Achilles’ Erzieher und Laufbursche, und es ergibt wenig Sinn, ihn zu schicken, um seinen Herrn zu überreden. Obendrein benutzt Homer eine duale Verbform, als die Gesandten »am Ufer des rauschenden Meeres entlang« zu Achilles’ Zelt gehen – eine griechische Verbform zwischen Singular und Plural, die sich immer auf zwei Personen bezieht, in diesem Fall auf Ajax und Odysseus. Homer benutzt noch sieben weitere Wörter, die sich im Griechischen seiner Zeit – dieser Zeit – auf zwei und nicht auf drei Männer beziehen.
    Wo ist Phönix bei diesem Fußmarsch von Agamemnons Camp zu Achilles’ Teil des Feldlagers? Befindet er sich schon in Achilles’ Zelt und wartet dort auf die Gesandten? Das ergibt nicht viel Sinn.
    Vor und während meiner Zeit auf Erden haben etliche Gelehrte die Ansicht vertreten, Phönix sei eine unbeholfene Ergänzung der Geschichte, eine Jahrhunderte später hinzugefügte Figur. Diese Theorie würde die duale Verbform erklären, ignoriert aber die Tatsache, dass Phönix die längste und komplexeste Rede der drei Gesandten halten wird. Seine Rede ist so wunderbar abschweifend und kompliziert, dass sie geradezu nach Homer riecht.
    Es ist, als hätte der blinde Dichter selbst nicht mehr genau gewusst, ob nun zwei oder drei Emissäre zu Achilles unterwegs waren und welche Rolle Phönix bei dem Gespräch spielen würde, das über das Schicksal aller Beteiligten entscheiden sollte.
    Ich habe noch ein paar Stunden Zeit, um darüber nachzudenken.
    Wenn du unser Schicksal ändern willst, musst du den Angelpunkt finden.
     
    Aber das liegt noch Stunden in meiner Zukunft. Hier ist es noch immer Nachmittag, und die Trojaner haben vor dem Graben der Achäer Halt gemacht, während die Griechen wie Ameisen hinter ihrem Wall aus Steinen und angespitzten Pfählen herumwimmeln. Ich bin nach wie vor zu einem verschwitzten achäischen Lanzenkämpfer gemorpht, und es gelingt mir, nah an Agamemnon heranzukommen, als der König zuerst seine Männer schilt und dann um Zeus’ Hilfe in ihrer dunkelsten Stunde bittet.
    »Schande über euch alle!«, ruft der Atride seinen verdreckten Soldaten zu. Wegen der damaligen Akustik kann ihn natürlich nur ein Hundertstel der Männer hören, aber Agamemnon hat eine kräftige Stimme, und die hinteren geben seine Worte an andere weiter.
    »Schande, ihr feigen Memmen, die ihr nur stattlich ausseht! Ihr habt geschworen, diese Stadt niederzubrennen, habt reichlich vom Fleisch der Rinder geschmaust – auf meine Kosten! –, und aus Krateren getrunken, die randvoll waren vom Wein, den ich ebenfalls bezahlt habe und hierher schaffen ließ, und nun seht euch an! Ein geschlagener Haufen! Ihr habt geprahlt, jeder von euch wollte gegen hundert oder zweihundert Trojaner stehen im

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